In 45 Meter Höhe riskiert der 25-Jährige dicht bei den 360 000-Volt-Leitungen bei Windstärke acht sein Leben und hält die Rettungskräfte 143 Minuten in Atem.

NZ-Redakteur Werner Stahl beschrieb die Flucht am 20. März 1974 so :

Der Strafgefangene Rolf S. (25), der in der Strafanstalt Glasmoor "durchdrehte", flüchtete und 45 Meter hoch auf einen Starkstrommast kletterte, wird dafür nicht bestraft! "Was ich versprochen habe, das halte ich auch", erklärte Anstaltsleiter Hans Kellermann. Er hatte, wie im Hamburger Abendblatt berichtet, Rolf S. "Straffreiheit innerhalb der Anstalt" zugesichert. Das bedeutet: keine Einzelhaft und keine gekürzte Verpflegungsration.

143 Minuten hatte der Gefangene am Montagnachmittag für eine sensationelle Aufmerksamkeit an der Glasmoorstraße gesorgt. Sein Spiel mit dem Tod in 45 Meter Höhe, verzweifelt festgeklammert an den Stahlstreben des Mastes, gezerrt von Windböen mit Stärken über acht, ist völlig unverständlich. Rolf S. hatte nur vier Wochen wegen Verletzung der Unterhaltspflicht abzusitzen. Am 31. März wäre er wieder in Freiheit gewesen.

Es passierte um 16.30 Uhr, als die Häftlinge von der Außenarbeit zurückkehrten. Rolf S. flüchtete plötzlich. Seine Verfolger kamen nur bis auf 30 Meter an ihn heran. Blitzartig kletterte Rolf S. auf den 75 Meter hohen Starkstrommast. In 45 Meter Höhe klammerte er sich fest, wenige Meter von den 360 000 Volt-Leitungen entfernt und drohte, jeden "runterzuschmeißen", der raufkommt. Er selbst wollte sich in den Tod stürzen. Hamburger und Norderstedter Feuerwehrleute breiteten ein Sprungtuch aus. Über Megaphon versuchten Feuerwehrmänner, der Anstaltsleiter, ein Mithäftling und die Schwägerin von Rolf, den Häftling zum Abstieg zu bewegen. Ohne Erfolg. Rolf S. ließ sich zu nichts bewegen. Die letzten 14 Tage seiner Haft wollte er oben auf dem Mast verbringen, weil "Glasmoor wie Auschwitz ist".

Die Feuerwehrmänner, die in ihren dicken Jacken am Sprungtuch schon erbärmlich froren, machten sich über das mögliche Schicksal von Rolf S. keine Illusionen. Lange konnte er sich oben im eisigen Wind nicht mehr halten. Das Sprungtuch würde ihn nicht retten. Brandinspektor Nißle von der Feuerwache Alsterdorf sagte es Rolf übers Megaphon deutlich: "Wenn du runterfällst, können wir dich nicht retten. Wenn du hier ankommst, hast du alle Knochen gebrochen!"

Dann endlich - nach zwei Stunden - nickt Rolf S. mit dem Kopf: er will wieder runter. "Aber bringt mir Handschuhe mit!" fordert er. Drei Feuerwehrmänner - sie haben sich für den lebensgefährlichen Job freiwillig gemeldet - beginnen den Aufstieg. Über den Lautsprecher kommt die Nachricht, dass die HEW die 360 000-Volt-Leitung abgeschaltet hat. Trotzdem besteht noch Lebensgefahr: Es kann noch Induktionsstrom da sein. Als drei kleine dunkle Punkte nähern sich die Feuerwehrmänner Rolf S., der als armseliges Bündel Mensch oben im Mast hockt und sich verzweifelt festklammert. Seine von ihm geschiedene Frau, von einem Peterwagen aus Hamburg herangebracht, verfolgt die Rettung mit Tränen in den Augen. Sie braucht nicht mehr übers Megaphon zu sprechen. Bloß keine neue Aufregung! Dann haben die Feuerwehrmänner es geschafft: Sie seilen Rolf S. an und beginnen mit dem Abstieg.

20 Minuten für 45 Meter! Jeder Schritt, jede Sprosse ist lebensgefährlich. Alle starren vom Bonde aus gebannt nach oben. 7 Minuten vor 19 Uhr - nach 143 Minuten ist alles vorbei, Rolf S. geborgen. In Decken gehüllt, wird er ins Krankenhaus gebracht. Sein Dank an die Retter: "Leck mich am A...!" Da verstehen auch die Feuerwehrmänner die Welt nicht mehr.