Manfred Toews tütet schon so lange vom Kirchturm wie niemand sonst in Norddeutschland. Täglich spielt er Choräle im Glockenstuhl von St. Johannis. Zunächst neben seinem Bürojob, jetzt als Pensionär.

Lüneburg. Sein erster Griff geht zum verstaubten Koffer: Manfred Toews lässt dessen Schnalle aufschnappen, darunter glänzt – auf blauem Samt gebettet – sein Flügelhorn. Das Wichtigste an einem Wintermorgen wie diesem, das ist der Test der Ventile: Sind sie gefroren, gehört das Instrument zum Auftauen zwischen die Beine. Manfred Toews, der Mann mit der runden Nickelbrille, ist einer der letzten Turmbläser Deutschlands: Seit 35 Jahren steigt der Lüneburger montags bis sonnabends jene 200 Stufen hinauf in die Glockenstube von St. Johannis und bläst von dort oben aus einen Choral in alle vier Himmelsrichtungen.

Turmbläser, das sei einmal ein „unehrlicher Beruf“ gewesen. So hieß das damals, wenn jemand weit unten in der Ständeordnung arbeitete. Nach Feinden und Feuer sollten die Männer vom Turm aus Ausschau halten und im Zweifelsfall vor den Gefahren warnen. Choräle blasen die Türmer nämlich erst seit der Reformation.

Es gibt nur wenige ganzjährige Turmbläser in Deutschland, die Choräle spielen. Am Hamburger Michel gibt es zum Beispiel einen, an der Celler Stadtkirche und an der Lambertikirche Münster auch. Doch Manfred Toews tütet schon so lange vom Kirchturm wie niemand sonst in Norddeutschland. Von St. Johannis ist das Turmblasen historisch schon seit Mitte des 17. Jahrhunderts bekannt.

Manfred Toews ist der Türmer der Neuzeit. Und macht doch nichts anders als seine Vorgänger. Nach 200 Stufen sind die Muskeln warm, der große, schlanke Mann zieht sein Wollstirnband vom Kopf und die Lederhandschuhe von den Fingern. Der 72-Jährige fischt ein Etui aus seinem Instrumentenkoffer und tauscht die Brille aus: Mit den Gleitsichtgläsern des Alltags könne er nicht schräg nach unten gucken, sagt er. Genau das müsse er aber unbedingt, wolle er gleichzeitig die Noten der Choräle lesen und sein Instrument in Richtung der Lüneburger Außenwelt spielen.

Den Notenständer mit dem per Wäscheklammern befestigten, fast 35 Jahre alten Gesangbuch in der einen und das Flügelhorn in der anderen Hand, macht sich Manfred Toews gegen sieben Minuten vor 9 Uhr auf dem Weg zur ersten Luke. Norden, Osten, Süden, Westen, das ist seine Reihenfolge. Er schiebt den Metallriegel zur Seite, zieht den Holzladen zu sich heran, drückt sich eng an das 600 Jahre alte Mauerwerk und stellt die Noten vor das Drahtgitter. Winterluft bläst in sein Gesicht, dann tutet der erste Ton über die roten Dächer der kleinen Stadt.

Fast 9000 Mal ist der pensionierte Diplom-Agraringenieur schon hier oben gewesen, schätzt er selbst. Hunderte Mal hat er „Geh aus mein Herz“ gespielt.

Er bekommt Briefe von Frauen, die erzählen, dass sie ihren Arbeitsweg nach seinem Spiel planen. Und er kann sehen, wie die kleinen Menschen unten auf den Straßen manchmal stehen bleiben, wenn er zu spielen beginnt. „Die alten Melodien rühren die Menschen an, auch mich selbst immer noch. Das ist eine Minute Besinnlichkeit“, sagt er, während er sich Richtung Osten aufmacht.

Im Vorbeigehen atmet Toews den Geruch des mächtigen Gebälks im Glockenstuhl ein. „Das Holz riecht so wunderbar“, flüstert der Türmer und versinkt für eine Sekunde in Gedanken: „Dieses Holz ist mindestens 700 Jahre alt, kaum vorstellbar.“

Bevor Manfred Toews zum ersten Mal in die Glockenstube stieg, seinen ersten Choral wählte und die ersten Töne über die Stadt blies, hat er sie selbst jahrelang durch sein Bürofenster gehört. Damals hat ein Trompeter des Heeresmusikkorps die Musik zu Toews Morgentee gespielt – und als der ausfiel, dachte der Ingenieur am Schreibtisch laut nach: Schließlich spielte er selbst seit einem Jahr im Posaunenchor – auf einer Trompete, die seine Frau auf dem Dachboden gefunden hatte.

Eine Kollegin setzte Toews Gedanken dann eines Tages in Taten um, rief bei der Gemeinde an, reichte Manfred Toews den Hörer rüber – „und das war’s“, sagt der Pensionär und lacht. „Seitdem mache ich das.“ Also bereits seit 1978. Erst als kurze Auszeit vom Bürojob , dann jeden Tag als Pensionär. Ein paar Mal krank, ab und zu ein Städtetrip mit seiner Frau – die Fehltage des Türmers in den 35 Jahren sind übersichtlich. Und sollte er irgendwann nicht mehr jeden Morgen 200 Stufen steigen können? „Dann wird mir das sehr fehlen.“