Trompeter Josef Thöne ist Turmbläser vom Michel und mindestens so zuverlässig wie dessen Stundenglocke – komme, was wolle!

Luther schaut streng von seinem Sockel. Zu seinen Füßen haben sich Schüler auf Klassenfahrt versammelt. Pünktlich um Viertel vor zehn kommt Michel-Türmer Josef Thöne zu unserem Treffpunkt, ebenfalls bei der Luther-Statue. Er schließt eine Tür auf, ein paar Stufen nur, dann sind wir am Turm-Aufzug. Wo ein kleines Schild verkündet: „Außer Betrieb“.

„279 Stufen, das ist in sieben, acht Minuten locker zu schaffen“, sagt Josef Thöne. Er hat gut reden: In den zwei Monaten im vergangenen Frühjahr, als der Aufzug durch einen größeren ersetzt wurde, konnte er reichlich trainieren. Als wir die Herausforderung wenigstens schon mental bewältigt haben, öffnet sich plötzlich die Aufzugtür – für eine Probefahrt. Blitzartig werden Türmer, Journalist und Fotograf auf den siebten Boden des Michelturms, den Türmerboden, befördert.

„82,5 Meter“, verrät die elektronische Anzeige in der Aufzugkabine zu dem roten Punkt, der zeigt, wo im Turm die Aufzugkabine sich gerade befindet. Ungefragt verrät sie gleich noch: „3,7Grad“, die nicht eben trompeterfreundliche Hamburg-Temperatur. Auf dem Türmerboden, direkt unterhalb des Bodens mit der größten Kirchturmuhr Deutschlands, ist es nicht viel wärmer. Thöne geht zu einem Notenständer, auf dem das Gesangbuch und ein Terminplaner liegen. Holt die Trompete aus ihrer Hülle, wärmt das Mundstück an, schaut, was am Abend zuvor gespielt wurde. Er blättert ein wenig im Gesangbuch und hat sich schnell entschieden: für Nr. 370 – „Warum sollt ich mich denn grämen?“

Dann schlägt schwer die Stundenglocke der Micheluhr, zehnmal. Thöne öffnet das Ostfenster, „da fangen wir immer an, weil da die Sonne aufgeht“, schiebt das Instrument halb hinaus und bläst seinen Choral über die Dächer am Krayenkamp und weiter Richtung Elbphilharmonie, Speicherstadt und HafenCity. Fenster zu, ein paar Schritte nach rechts, Fenster auf: Richtung Süden wehen seine Töne hinunter zum Verlagshaus von Gruner+Jahr, zum Portugiesen-Viertel. „Bis zum ehemaligen Hafenkrankenhaus und an den Anfang der Reeperbahn kann man’s manchmal hören“, weiß Thöne.

Um 10.04 Uhr öffnet er das Fenster Richtung Norden, über die Ludwig-Erhard-Straße zum Großneumarkt, über Kontorhäuser zur Musikhalle. Akustisch schweres Terrain, der Verkehrslärm dröhnt fast lauter als die Thöne-Trompete. 10.05 Uhr: Der Türmer schließt das letzte Fenster. Verpackt sein Instrument, geht zum Notenpult und trägt im Kalender ein: „#370, Josef“. Nur an wenigen Tagen ist sein Programm vorgegeben: „Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren“, Nr. 316, erklingt nur, wenn einer der Michel-Pastoren Geburtstag hat.

Ein Michel-Türmer ist erstmals 1669 bezeugt. Der wohnte damals oben im Turm, hatte nach Bränden, nach Banden und anrückenden Feinden Ausschau zu halten und die Stadt zu alarmieren. Ein „unehrlicher“ Beruf, also nicht in das ständische System eingegliedert. Das Choralblasen vom Turm ist eine Erfindung der Reformationszeit. Die Kirchenlieder waren jedermann bekannt, ihre frommen Texte kamen den Menschen automatisch in den Sinn, wenn die Melodie erklang. Der Choral vom Michel, seit jeher um zehn Uhr morgens und 21 Uhr abends, sonntags nur einmal um zwölf Uhr mittags geblasen, war bis zur Aufhebung der Torsperre am 1. Januar 1861 auch das Signal zum Öffnen und Schließen der Stadttore.

Eine lange Tradition, in der Josef Thöne und sein Türmer-Kollege Horst Huhn stehen. Da kann sogar der Michelturm abbrennen, wie 1750 und 1906. Dann wird eben von einem eigens gezimmerten Holzgerüst gespielt. Nicht einmal in den Bombennächten des Zweiten Weltkriegs haben die Michel-Türmer die Tradition unterbrochen. Soweit Thöne sich erinnern kann, ist der Choral nur ein einziges Mal ausgefallen – ein Fahrradunfall des Kollegen auf dem Weg zur Arbeit. Die beiden teilen sich das Amt, an 365 Tagen im Jahr. „Das muss man wollen, da muss auch das Lebensumfeld kompatibel sein. Absolute Zuverlässigkeit ist Kernvoraussetzung.“

Wie er zu dem Job als höchster Trompeter Hamburgs gekommen ist? Thöne, 1959 in Warburg geboren, studierte in Lübeck und Hamburg Trompete, machte Examen als Konzerttrompeter und Musiklehrer. Seine Studentenwohnung hatte er beim Michel. Irgendwann kam er mit dem damaligen Türmer, der auch noch Küster war, ins Gespräch. Als dann eine Zeitung über Probleme bei dessen Urlaubsvertretung berichtete, meldete er sich. Das war Anfang der 80er-Jahre. Seither blieb er dem Michel verbunden, und seit 1991 ist er selbst einer der beiden Turmbläser.

Wenn er nach seinem Choral wieder unten ankommt, wird er manchmal schon erwartet. „Anwohner, die mich seit vielen Jahren gehört haben und endlich mal wissen wollen, wie dieser Trompeter aussieht.“ Oder Touristen, die ihn verwundert haben spielen hören. Er kennt einige Anekdoten, wie die von der alten Frau, die sehr lange beim Michel gewohnt hatte und dann im Altenheim weiter draußen den Choral vom Michelturm vermisste. „Über viele Jahre wurde sie deswegen von ihrer Tochter werktags um kurz vor zehn angerufen, damit sie den Türmer weiterhin hören konnte.“

Für Thöne ist das Turmtrompeten nur einer seiner Jobs. Der Mann, der in den 80er-Jahren schon mal bei „Cats“ im Orchestergraben saß, ist mit einer Dreiviertelstelle Trompetenlehrer an der Staatlichen Jugendmusikschule.

Der Einsatz als Turmbläser, wird das nicht lanweilig? Josef Thöne sagt: „Kein Tag ist wie der andere, ich komme immer neugierig her und versuche herauszufinden: Was ist heute anders als gestern? Das Wetter, die Sicht, die Akustik – alles hat seinen Reiz.“ Vielleicht liegt es ja am häufigen Blick von oben, dass Probleme da unten einfach kleiner aussehen: Josef Thöne ist ein ausgesprochen zufriedener Mensch.

Ich komme immer neugierig her und versuche herauszufinden: Was istanders als gestern?