Wohin gehen die Menschen in der Krise? Wie verändert sie ihr Leben? Ein Dialog mit Superintendentin Christine Schmid.

Lüneburger Rundschau:

Hinter uns liegt ein wirtschaftlich sehr schlechtes Jahr. Vor uns liegt eins, von dem viele sagen, es wird noch schlechter. Das ist zwar nur die wirtschaftliche Seite, aber Wirtschaft wirkt durch die gesamte Gesellschaft. Was geben Sie den Menschen zum Jahreswechsel mit?

Christine Schmid:

In der Unsicherheit über die wirtschaftliche Situation sehen wir deutlicher, welche Werte uns halten. Wir brauchen Gemeinschaft, jeder Mensch braucht Geborgenheit. Wir müssen uns gegenseitig schützen, füreinander da sein, egal, wie die Welt da draußen ist.

Rundschau:

Was fehlt für diese Gemeinschaft?

Schmid:

Raum für die Seele. Die Seele kommt in manchen Dingen zu kurz, zum Beispiel in der Pflege. Patienten werden sehr gut behandelt und versorgt, das Qualitätsmanagement ist gut. Aber für den Menschen selbst ist zu wenig Zeit, und gerade alte Menschen brauchen die persönliche Ansprache. Wo bleibt die?

Rundschau:

Bei der Kirche vielleicht. Kann sie füllen, was Krankenhäuser und Pflegedienste nicht leisten können?

Schmid:

Das möchten wir natürlich, aber unsere finanziellen Mittel sinken, wir müssen Personal sparen, das sind 85 Prozent unserer Kosten. Und dennoch müssen wir wieder mehr Zeit für die Seelsorge haben, denn den Menschen ein Gegenüber zu sein, ist unsere wichtigste Aufgabe.

Rundschau:

Allein, wie soll das gehen, wenn Pastoren schon heute 3000 Gemeindemitglieder betreuen und an sieben Tagen in der Woche 24 Stunden ansprechbar sind.

Schmid:

Es ist eine Illusion, dass wir diese Aufgabe komplett übernehmen. Wir können nur exemplarisch helfen. Es ist vielmehr eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, einzusehen: Nicht alles muss so kurz getaktet sein. Da sind auch Gesetzgeber und Krankenkassen in der Pflicht. Es wird viel auf Kirche und Ehrenamt abgeschoben. Was wir als Kirche können, ist, Orte und Zeiten vorzuhalten und zu schützen, die die Dimension der Seele eine Ort geben Kirchen und Gemeindehäuser etwa und den Sonntag.

Rundschau:

Kirchen geben der Seele einen Raum. Kommen in der Krise mehr Seelen in die Kirchen?

Schmid:

Ja. Unsere Weihnachtsgottesdienste sind stärker besucht, obwohl wir mehr Gottesdienste angeboten haben.

Rundschau:

Gottesdienste sind noch recht öffentlich. Suchen auch mehr Menschen Sie und Ihre Kollegen persönlich auf?

Schmid:

Auch das. Es gibt einen hohen Bedarf an Begleitung des Einzelnen durch Krisen, vor allem bei alten Menschen und Kindern ist er groß. Bei Alten, weil sie ohne Einbindung in Familie leben, und bei Kindern, weil sie durch ihre soziale und familiäre Situation ein Defizit an Geborgenheit und Verwurzelung haben. Der Stress in der Erwachsenenwelt führt zu Stress in der Kinderwelt. Daher versuchen wir, das Selbstbewusstsein der Kinder zu stärken.

Rundschau:

Führt der Bedarf an Begleitung auch zu Wiedereintritten in die Kirche?

Schmid:

Durchaus. Zwar haben wir mehr Austritte als Eintritte, letztere aber sind in absoluten Zahlen mehr geworden. Und es gibt viel Interesse, viele Willige. Für sie müssen wir unsere Willkommenskultur und Öffnung noch stärker forcieren.

Rundschau:

Wirtschaftliche Krisen können zu mehr Solidarität führen - oder zum Gegenteil. Was beobachten Sie?

Schmid:

Wir stehen an einer Wende. Die Zeit des Egoismus ist vorbei. Eine ernste Krise ist auch immer der Punkt der größten Hoffnung. Wer erkennt: teilen ist besser als raffen, ist ,Zukunftsmensch". Mehr ist nicht besser, sondern besser ist besser. Es geht darum, besser zu leben, und nicht Mehr zu haben.

Rundschau:

Wer das noch nicht von alleine gemerkt hat, hat es jetzt mit dem Holzhammer gelernt. Immer mehr zu haben geht einfach nicht mehr.

Schmid:

Tatsächlich, die Krise hilft bei dieser Einsicht. Und das finde ich gut. Auch die Spenden nehmen nicht ab. Besonders erfreulich ist, dass auch für die ärmsten Länder weiter gespendet wird. In einer Gemeinde zu Weihnachten für Brot für die Welt allein 6000 Euro! Und auch bei wirklich wichtigen Dingen stehen die Menschen zusammen: unzählige lassen sich für Knochenmarksspenden registrieren. Oder wenn Kirchen zum Beispiel vor der Schließung stehen , bilden sich Vereine, um sie zu retten. Es ist viel Hilfsbereitschaft ist da.

Rundschau:

Und doch versuchen Einzelne, aus der Krise mit denselben Zielen und Mitteln herauszukommen, die sie herbeigeführt haben. Zum Beispiel Wachstum.

Schmid:

Bei reinem Wachstum sind menschliche Aspekte gefährdet, aus dem wirtschaftlichen Kontext hinausgedrängt zu werden. Jetzt gibt es die Chance zum Gegentrend, die müssen wir unterstützen. Für die Finanz- und Bankenwelt habe ich allerdings die Sorge, dass diese Lernchance nicht genutzt wird.

Rundschau:

Nicht nur dort, sondern quer durch alle Branchen versuchen Arbeitnehmer, ihre Leistungsfähigkeit zu vergrößern. Die Krankmeldungen waren 2009 so gering wie noch nie. Ist das gesund?

Schmid:

Der Mensch kann seine Befähigungen weiterentwickeln, das ist ein Gottesgeschenk. Wichtig ist aber, die Balance zu halten. Der Mensch ist endlich und begrenzt. Keiner kann alles. Arbeite ich zu schnell, mache ich Fehler, und noch nie gab es so viele Burn-Outs wie jetzt. Burn-Outs und Depressionen sind ein klares Signal, dass die Belastung zu groß ist, die Erholungszeiten zu knapp sind. Leistung ist schön, und sie inspiriert, aber die andere Seite kommt zu kurz. Der Mensch darf nicht auf Rationalität und Leistung reduziert werden. Das Aufwachen ist da, das Besinnen auf das, was unabhängig vom wirtschaftlichen Wohlstand an Werten zählt: Glaube, Liebe Hoffnung, Vertrauen, Gemeinschaft. Gerade auch Christen sind aufgefordert, stärker dafür einzustehen.

Rundschau:

Der Mann, der in München genau das getan hat, bezahlte mit seinem Leben.

Schmid:

Von solchen Menschen brauchen wir mehr. Wir dürfen nicht in Angst zurückschrecken, wir brauchen Mut und Zivilcourage. Das dürfen wir aber nicht alleine versuchen, sondern wir müssen uns zusammenschließen - wie es etwa bereits in Stadtteilrunden, dem Netzwerk für Demokratie gegen Rechtsextremismus und in der Zusammenarbeit mit Schulen geschieht.

Rundschau:

Wie viel davon bleibt trotzdem frommer Wunsch?

Schmid:

Mutlosigkeit gibt es auch, das sehe ich auch. Die Gewaltbereitschaft etwa in Kaltenmoor ist gestiegen. Das erschreckt uns und bedarf einer beharrlichen gemeinschaftlichen Anstrengung.

Rundschau:

Welches ist die wichtigste Ressource, die unsere Gesellschaft dabei hat?

Schmid:

Das Mitgefühl. Das muss in der immer technischer werdenden Welt betont werden. Wir kommunizieren zwar mehr, aber gerade bei Jugendlichen und in Chatrooms herrscht viel Einsamkeit. Weil der Mensch eben auch Leib ist und nicht nur Kommunikationsinstanz im Kopf. Da fehlt das ganzheitliche Zusammenkommen im Alltag.

Rundschau:

Kommen Familien denn wieder stärker zusammen? Oder brechen sie eher auseinander?

Schmid:

Die Unterschiedlichkeit wird immer größer. Es gibt Familien, die wieder intensiver zusammen leben, und auf der anderen Seite Eltern und Großeltern, die hilflos sind, Vertrauen erst üben müssen. Die Isolierung von Kleinstfamilien wie Mutter und Kind ist ein Riesenproblem. Für sie braucht es Räume wie Eltern- Kind- Gruppen oder etwa das MaDonna. Wir sollten aber all im Alltag wieder mehr aufeinander schauen, anstatt nur nach Sozialprofis zu rufen. Wir müssen aufpassen, uns nicht gegenseitig allein zu lassen: die, die zu viel arbeiten und Geld haben, und die, die von beidem zu wenig haben.

Rundschau:

Die Basis der Kirche wird kleiner - die der Mitglieder und die wirtschaftliche. Wohin geht die Institution Kirche?

Schmid:

Wir wandeln uns von der Volks- zur Minderheitenkirche. Kirche kann nicht mehr allein von Kirchensteuer leben und ihre großen Gotteshäuser erhalten. Dafür brauchen wir das Engagement von Bürgern, Stiftungen und Unternehmen. Wir werden in Zukunft zwar weniger Mitglieder haben, aber bewusste. Wir werden kleiner, aber profilierter. Und die Basis aus Mitgliedern und Gemeinden wird wichtiger werden. Das ist typisch evangelisch und erfreulich. Die Zuversicht und Zuwendung, die der Glaube gibt, wird zu allen Zeiten wichtig sein. Das zu vermitteln bleibt unser zentrales Anliegen.