In einem leer stehenden Kasernengebäude in Lüneburg bereiten sich Ordnungshüter auf irre Attentate vor.

Lüneburg. Schusssalven und Angstschreie hallen durch Gebäude 87 der Theodor-Körner-Kaserne. Die leer stehende Kantine wird mindestens einmal pro Monat zum Schauplatz mehrer Amokläufe. Statt realer Wahnsinnstaten handelt es sich dabei aber um Simulationen der Polizei. Die Ordnungshüter trainieren so, wie sie sich in Extremsituationen verhalten müssen.

Eine solche Herausforderung haben die vier Beamten Cornelia Dreher, André Jebram, Katharina Hodek und Axel Gutzeit in einem Nebenraum zu bestehen. "Was wollen Sie von mir?", hören sie eine Frauenstimme in der Ferne kreischen. "Auf den Boden!", befiehlt eine Männerstimme herrisch. Danach fällt ein Schuss. Der Amokläufer hat sein Opfer mit roter Farbmunition "exekutiert".

Als sich das "Einschreitende Team" an den Tatort vorgetastet hat, ist der Schütze entwischt. Er nutzt einen Rundlauf in den hinteren Zimmern und taucht plötzlich mit jeweils einer Druckluftpistole in jeder Hand hinter den Polizisten auf. Der Mann eröffnet das Feuer, trifft dabei eine Beamtin in der Leistengegend und zieht sich in den Keller zurück.

"Kollege getroffen", brüllt Teamleiterin Cornelia Dreher ins Funkgerät. Sie ist die einzige im Team, die Kommunikation mit Beamten draußen hält. Zudem ist es ihre Aufgabe, das Tempo und die Laufrichtung ihrer Mannschaft vorzugeben. In der unübersichtlichen Szenerie mit dem Geruch von Schwefel in der Luft und zwei Opfern und einigen Patronenhülsen auf dem Boden wirkt die blonde Frau nicht mehr sehr souverän.

Doch schon wenig später haben die Beamten wieder die Oberhand. Der Täter ist bereits nach kurzer Jagd erschöpft und will seinem Amoklauf ein Ende bereiten.

"Kommt doch her, ich warte auf euch", schreit er seine Gefechtsgegner an. "Hier kommt niemand lebend raus!" Um diese Drohung wahr zu machen, schießt er auf dem Absatz der Kellertreppe liegend ohne Deckung auf die Polizisten. Ihn selbst treffen fünf Schüsse in der Brust und ein Schuss wenige Zentimeter über dem linken Ohr.

Bei der anschließenden Besprechungsrunde deckt Polizei-Trainerin Denise Staedler den Fehler der Polizisten auf: "Ihr ward kompakt, aber zu langsam." Der Amoktäter war in dieser fiktiven Simulation der frustrierte Langzeitarbeitslose Herr Schneider. In der Arbeitsagentur nahm er blutige Rache am Amtsleiter und der Sachbearbeiterin für den Buchstaben S. Zumindest der zweite Mord hätte verhindert werden können.

"In einer akuten Notzugriff-Lage haben die Streifenbeamten in der Regel nur wenige Minuten Zeit, um Schlimmeres zu verhindern", erklärt der zweite Trainer Armin Reinhold. "Beim Amoklauf in Erfurt starben 16 Menschen in nur 18 Minuten." Um so etwas in der Zukunft zu verhindern, müsse die Polizei sofort eingreifen, statt erst auf ein Spezialkommando zu warten. Daher müssten alle Beamten der Polizei dafür gerüstet sein und regelmäßig trainieren.

"Für mich war es schon die dritte Übung", sagt Lorenz Reimers. Der Oberkommissar in der Polizeiinspektion Lüneburg schätzt das Pflichtprogramm, das Handlungsabläufe standardisieren soll. "Nur so kann man den Stress bewältigen und sich auf das Wichtige konzentrieren", sagt Reimers. "Außerdem ist es total wichtig, zu wissen, dass man sich im Ernstfall auf seine Kollegen verlassen kann."

Ebenso wichtig ist es laut Reimers, dass der gedankliche Sprung in die Ausnahmesituation simuliert wird. "In der Polizeischule wurde ich darauf trainiert, einen Täter möglichst lebend zu verhaften", sagt der Lüneburger Beamte. "Doch bei einem Amoklauf müssen wir viel offensiver vorgehen und den Täter so schnell wie möglich außer Gefecht setzen." Das Töten des geistig verwirrten Massenmörders ist dabei als allerletztes Mittel nicht auszuschließen.

"Niemand stürzt sich da mit Hurra-Geschrei herein", sagt Reimers. Eine Rambo-Mentalität ist bei dem Training nicht zu spüren. "Bedrückend", beschreibt der Polizist stattdessen die konzentrierte Anspannung in der Übungsgruppe. "Wenn ich einmal wirklich in eine solche Situation kommen sollte, dann würde das wohl mein Leben verändern."

Dass solche Ängste auch in Lüneburg durchaus berechtigt sind, zeigte sich Ende Februar vorigen Jahres. Ein 19 Jahre alter Schüler hatte im Internet einen Amoklauf in der Berufsbildenden Schule I angedroht. Ein Sonderkommando stellte ihn zwar später zu Hause. Doch örtliche Polizisten planten bereits den Eingriff im Schulgebäude am Schwalbenberg.