Renate Wippermann erfuhr erst jetzt, dass Mediziner ihren „lebensunwerten“ Bruder 1942 verhungern ließen. Sie selbst lebt nur noch, weil sie 1946 und nicht 1944 geboren wurde.

Lüneburg. Renate Wippermann ist 67 Jahre alt. Geboren 1946, hat ihr Geburtsjahr ihr Leben gerettet. Zwei Jahre früher, und sie wäre wegen ihrer Rachitis noch als Kleinkind in eine Klinik gekommen, von der ihre Eltern gedacht hätten, sie würde dort gesund. In der Ärzte und Pfleger sie aber hätten sterben lassen: die Kinderfachabteilung der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg.

Dass sie nur noch lebt, weil sie 1946 und nicht 1944 geboren wurde, weiß Renate Wippermann erst seit diesem Sommer. Es ist der 2. Juli, sie liegt noch im Bett, da klingelt ihr Handy. Ihre Tochter Bärbel ist dran, liest ihr aus den „Pyrmonter Nachrichten“ vor. „Bestattung nach über 70 Jahren“, hört die Mutter aus dem Telefon, „Suche nach Angehörigen“, „Werner Wolters“. Seither ist die Geschichte der Familie eine andere.

Werner Wolters ist der Bruder von Renate Wippermann. Er war keine vier Jahre alt, als er starb. Geboren als erstes Kind der Familie am 1. Mai 1938, litt der Junge an Rachitis, einer Wachstumsstörung aufgrund von Mangelernährung. Er kam nicht auf die Beine, lernte nicht Laufen. Mit 15 Monaten vermuteten Ärzte in Hameln bei ihm eine „Idiotie“, nannten ihn „anstaltsbedürftig“. Sein Todesurteil.

Am 9. Oktober 1941 kam er nach Lüneburg, denn in der Heil- und Pflegeanstalt gab es eine Fachabteilung für Kinder. „Meine Mutter glaubte, hier würde Werner wieder gesund“, sagt Renate Wippermann und schaut offen in die Augen von 25 jungen Leuten. Mehr als 70 Jahre nach seinem Tod hat sie sein Grab in Lüneburg besucht, hat sie die Geschichte ihres Bruders erzählt.

Die Schüler machen eine Ausbildung an der Gesundheits- und Pflegeschule Uelzen, die Konfrontation damit, was Frauen und Männer ihres Berufsstandes während des Zweiten Weltkriegs verbrochen haben, ist Teil ihrer Lehre. Lüneburger Inklusionsschulung heißt das seit einem Jahr laufende Projekt. Zwei Tage haben die Azubis sich in der Bildungs- und Gedenkstätte der heutigen Psychiatrischen Klinik Lüneburg mit der NS-Psychiatrie auseinandergesetzt, anschließend die neue Gedenkstätte für die Opfer besucht.

Die Gedenkstätte liegt auf einem Friedhof, denn sie ist gleichzeitig ein Grab. Das Grab von zwölf Kindern, deren Schicksal die Angehörigen erst in diesem Sommer erfahren haben. Die wie Renate Wippermann und ihre Eltern dachten, die Kinder der Familien seien in Lüneburg an einem Magen-Darm-Katarrh, einer Lungenentzündung oder einem anderen Infekt gestorben, den die kleinen Körper nicht bekämpfen konnten. Das hatten die Ärzte den Eltern damals weisgemacht.

In Wahrheit starben allein in Lüneburg zwischen 1941 und 1945 mehr als 300 Kinder an einer Überdosis des Schlafmittels Luminal und mehr als 100 an mangelnder Versorgung. Außerdem 480 Erwachsene. Weil sie im NS-System als „Minderwertige“, „Ballastexistenzen“ und „unnütze Esser“ galten. Weil sie entwicklungsverzögert waren oder psychisch krank, weil sie Behinderungen hatten – oder Rachitis wie Werner Wolters.

Zu ihren Forschungszwecken haben die Ärzte nicht nur die Kinder getötet, sondern auch millimeterdünne Schnitte ihrer Gehirne angefertigt und in das Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf geschickt. Vergessen lagerten die Präparate im Archiv der Neuropathologischen Abteilung, bis ein Doktorand sie durch Zufall bei Nachforschungen zur Hamburger Kinderfachabteilung entdeckte. Heute sind sie beerdigt.

Monatelang hat sich die Historikerin Carola Rudnick durch Sektionsprotokolle und Akten gekämpft, bis sie für zwölf Kinder belegen konnte, dass sie es sind, deren sterbliche Überreste im Keller des Krankenhauses lagen. Rudnick leitet die Inklusionsschulung und forscht für die Bildungs- und Gedenkstätte der Lüneburger Klinik.

Als sie Namen und Biografien kannte, rief Carola Rudnick alle Lokalzeitungen in Norddeutschland an, aus deren Verbreitungsgebiet die Kinder kamen. Rund 60 Angehörige von Opfern der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg hat sie mittlerweile gefunden – unter ihnen Renate Wippermann. „Ohne sie“, sagt die 67-Jährige an diesem Herbsttag auf dem Lüneburger Friedhof, „hätte ich nie Abschied nehmen können von meinem Bruder.“

Carola Rudnick forscht noch immer, sucht die Familien von Friedrich Daps und Rosemarie Bode aus Hannover und Hans-Herbert Niehoff aus Hildesheim. Das Projekt Inklusionsschulung wird um zwei Jahre verlängert, finanziert von Europäischem Sozialfonds und der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten.

Kim Gleißert, 17, findet das gut. „Es ist super, dass diese Tage zu unserer Ausbildung gehören“, sagt die Pflegeschülerin. „Und dass Frau Wippermann uns von ihrem Bruder erzählt hat, war wirklich sehr bewegend.“ Die Mutter dreier Kinder selbst ist froh, dass ihre Eltern nicht mehr erfahren haben, was sie in diesem Jahr erfahren hat: Dass ihr Sohn gar keinen Infekt hatte, sondern Ärzte ihn haben verhungern lassen. Und dass dasselbe beinahe auch mit ihrer Tochter geschehen wäre.