Laiendarsteller zeigen am Wochenende im Museum am Kiekeberg das Landleben der Menschen zur Zeit der Napoleonischen Kriege vor 200 Jahren.

Ehestorf/Göhrde. Grauer Rauch beißt die Stimmbänder, fahles Licht fällt durch die Sprossenfenster. In Steingutbechern dünner Kaffee, lauwarm. Am Kopfende steht ein Mann mit Nickelbrille und Filzhut, er liest aus dem Gebetbuch vor. Dann setzt er sich auf seinen Lehnstuhl und beginnt, Butter auf eine Scheibe Brot zu schmieren. Knecht, Mudd`r und Magd tun es ihm nach. Willkommen bei den Meybohms. Willkommen im Jahr 1813.

Der Mann heißt Johann Hinrich, aber niemand nennt ihn so. „Bur“ wird er gerufen oder „Vadder“. Wir sind in Kakenstorf in der Lüneburger Heide, ganz am Anfang des 19. Jahrhunderts. Nur dass das Hallenhaus heute nicht mehr in Kakenstorf steht, sondern auf dem Gelände des Freilichtmuseums am Kiekeberg. Und dass der Bauer von heute kein Bauer ist, sondern Gerold Helmts, der in seiner Freizeit einen Bauer vor 200 Jahren mimt.

„Das Leben war härter, aber auch beschaulicher“, sagt der Mann Anfang des 21. Jahrhunderts. „Das Wissen reichte ja selten weiter als drei Dörfer, und wir haben immer nur eine Sache nach der anderen gemacht.“

Wenn die Groutdeern Butter macht, macht sie wirklich nur Butter. Und kocht nicht nebenbei noch Kaffee. Richtig nachspielen wollen die Frauen und Männer ihre Figuren allerdings nicht – das würde den wissenschaftlichen Ansprüchen des Museums nicht genügen. Wohl wirken sie aber als lebendige Informationsquellen. „Manche Besucher kommen direkt auf uns zu und fragen uns Löcher in den Bauch, andere beobachten uns lieber“, erzählt Urte Spaltofski, besser gesagt Deern. Die Darsteller tun tatsächlich (fast) alles, was ihre Figuren vor 200 Jahren auch getan haben: Feuer machen, Feuer halten, Bohnen im Ofen trocknen für den Winter (daher der Rauch im Haus), Brot backen, Heu machen, Socken stricken, Wolle der eigenen Heidschnucken für Stoffe färben, weben, spinnen, flachsen – und Hühner schlachten für die Suppe.

„Ich musste das alles selbst neu lernen“, sagt Andrea Rohe, die Mudder. Und einiges hat sie in die Realität der Gegenwart übernommen, erzählt sie: „Ich mache zum Beispiel selbst viel mehr ein.“ Aber Achtung, nicht einwecken, denn Einweckgläser gab`s damals noch nicht. Büx, Hemd und Weste am Mann, Gürteltaschen, Rock, Mieder und Schürze an der Frau. Ihre Haare sind unter eine Haube gesteckt, ein Schultertuch bedeckt ihr Dekolleté. Die Brillengläser sind klein und rund, die Bügel biegen sich nicht nach unten. Und das Taschenmesser hat keine Sicherheitssperre: Es ist die Liebe zum Detail, es ist die wissenschaftliche Belegbarkeit, die die gelebte Geschichte am Kiekeberg so authentisch macht. Dass die Zeitgenossen sich eine Ausnahme erlauben, macht nichts: Die Unterhosen sieht ja niemand.

Ernstere Mienen als sonst werden Buur, Knecht, Mudder und Magd an diesem Wochenende machen, wenn sie am Tisch sitzen und Brot schmieren. Denn sie werden weniger zu essen haben als üblich, sie werden weniger Platz haben als üblich, und sie werden sich um ihre Töchter, Mädge und Knechte sorgen.

Die Meybohms müssen im Jahr 1813 französische Soldaten bei sich schlafen lassen und versorgen. Junge Männer müssen zur Musterung und werden zwangsrekrutiert. Bauern müssen Straßen bauen, obwohl ihre Ernte reif ist. Und die Frauen müssen es irgendwie schaffen, alle Mann satt zu kriegen – auch wenn es nicht mehr zu essen gibt.

Napoleons Truppen belagern Harburg und die Elbmündung, sie bauen die erste Brücke über die Elbe – und anlässlich des 200. Jahrestags der Befreiungskriege schwenkt das Museum am Kiekeberg exakt 200 Jahre zurück und zeigt das Landleben mit französischer Besetzung. Wie dann die Schlachten geschlagen wurden, zeigen 400 Darsteller aus halb Europa ein Wochenende später in der Göhrde südöstlich von Hamburg: Am 16. September 1813 kämpften dort 3.000 Männer der französischen Armee gegen 12.000 Alliierte aus Preußen, Russland, Schweden und England. Tausende starben, die Verbündeten siegten – einen Monat vor der entscheidenden Völkerschlacht bei Leipzig. Auch hier: historisch belegte Kostüme, Biwaks und Kanonen, Trommeln und Trompeten. Was bei der Rekrutierung der Knechte am Kiekeberg endet, setzt sich in der Göhrde fort: auf dem Schlachtfeld.

Mitten drin Eleonore Prochaska, die als Mann verkleidet in den Krieg zog. So viel zur Wahrheit, jetzt kommt die Dichtung: Dass sie sich dabei in einen französischen Soldaten verliebte, fällt unter die künstlerische Freiheit: Das hat der Berliner Regisseur Gabriel Reinking erfunden, weil in seinem Freiluft-Theaterstück „1813 - Liebe und Tod in Göhrde“ ansonsten das Quäntchen Schmalz gefehlt hätte. So macht das Drama wiederum dort weiter, wo die Schlacht endet: vor der Schlacht.