Der Ausstand der Lokführer der Nord-Ostsee-Bahn ist bislang ein Flop. Züge fahren bald wieder pünktlich, die Streikfront bröckelt.

Hamburg. Sie stehen am Abstellgleis, acht Männer und eine Frau, die Gewerkschafts-Leibchen aus Plastik knistern wie Mülltüten. Eine Fahne, ein Transparent "Wir streiken". Aber die Reisenden auf den drei Bahnsteigen nebenan würdigen sie kaum eines Blickes. Es ist Donnerstagmorgen, 10 Uhr, auf dem Husumer Bahnhof. Die letzten streikenden Lokführer der Nord-Ostsee-Bahn (NOB) haben sich versammelt, um ihren Durchhaltewillen zu demonstrieren. Es beginnt der Streiktag 99. Im Radio gehören die Lokführer seit Monaten zum Standard in den Verkehrsnachrichten. Wenn wieder davon die Rede ist, dass wegen des Streiks die Züge nach einem Basis-Fahrplan verkehren.

Heute ist zusammenaddiert der 100. Streiktag der Gewerkschaft der Lokomotivführer (GDL) gegen die Nord-Ostsee-Bahn. Seit Februar bestreiken GDL-Lokführer die Strecken der NOB: Hamburg-Westerland, Kiel-Eckernförde, Kiel-Husum, Husum-St. Peter-Ording. Die NOB befährt zwar nur eine Strecke von 414 Kilometern: Die Züge werden jedoch jährlich von 9,3 Millionen Fahrgästen genutzt. Vor allem Sylt ist ein empfindliches Ziel für Streiks: Bis zu 5000 Menschen pendeln täglich auf die Insel.

Der Streik hatte mit viel Enthusiasmus begonnen, sagt Lokführer Frank Wegner. Damals, im Februar, als die GDL erstmals zum Warnstreik und am 7. März nach einer Urabstimmung zum unbefristeten - wenn auch immer wieder für ein paar Tage unterbrochenen - Ausstand aufrief. Ihre Züge ließen sie einfach in den Bahnhöfen stehen. In Kiel, Husum, Hamburg gingen sie auf die Bahnsteige und erklärten den Reisenden, was sie erreichen wollten. Rund 60 von 100 Lokführern der Nord-Ostsee-Bahn. "Jeder hat in seiner Schicht gestreikt. Auch um 3 Uhr morgens. Auch bei Schnee und Eissturm", sagt Wegner.

+++ Nordsee-Ansturm am Wochenende erwartet +++

+++ Anhaltender Streik der NOB-Lokführer +++

In den ersten Wochen erzielte der Streik auch die erhoffte Wirkung: Empörte Schulklassen auf dem Hamburger Hauptbahnhof, die nicht zum Ausflug nach Sylt aufbrechen konnten. Wütende Berufspendler. Pflegebedürftige auf Sylt, die auf ihre Pflegekräfte vom Festland warteten. Lokführer Frank Wegner hörte beim Abendessen, dass sein Protest Aufsehen erregte. Seine Frau, die als Zugbegleiterin ebenfalls für die Nord-Ostsee-Bahn arbeitet und nicht streikt, berichtete von schimpfenden Fahrgästen. Den Zorn der Reisenden bekamen im Sommer auch die sogenannten "Reisenden-Lenker" zu spüren, Studenten, die für rund 15 Euro die Stunde den Prellbock für die NOB spielen. "Ich wurde als KZ-Aufseher beschimpft, eine Frau wünschte mir Magenkrebs", sagt ein "Reisenden-Lenker", der gestern in Husum die Verspätungen erklären sollte. Ziemlich gelangweilt steht er im kleinen Backsteinbau des Bahnhofs. Kaum Fahrgäste. "Die Pendler haben sich an den Streikrhythmus gewöhnt und heute fällt nur noch alle zwei Stunden ein Zug aus", sagt er. Nichts zu tun.

Das hat einen Grund: Auf der wichtigsten Strecke Hamburg-Westerland verkehren die NOB-Züge wieder nach Plan. Die NOB teilte am vergangenen Montag mit, dass es auf den anderen Strecken "noch bis voraussichtlich einschließlich 6. November zu leichten Einschränkungen" komme, dann gelte auch hier wieder der normale Fahrplan. Dann wäre Streik - und keiner merkt's.

Wie konnte das passieren? Die Geschichte des NOB-Streiks erzählt davon, dass auch ein langer Streik längst nicht zum Erfolg führt. Die Lokomotivführer sind zwischen die Fronten geraten; da ist die Auseinandersetzung konkurrierender Gewerkschaften auf der einen Seite und der harte Konkurrenzkampf zwischen den privaten Bahnunternehmen und der Deutschen Bahn AG auf der anderen Seite.

Der 50 Jahre alte Lokführer Frank Wegner ist seit Beginn des Streiks dabei. Ein Gedanke treibt ihn: "Wenn der Betreiber eines Netzes wechselt, kann uns der neue weniger Geld bezahlen, weil er die Dienstjahre nicht anerkennen muss." Ein Lokführer verdiene zum Berufseinstieg etwa 2300 Euro und nach einigen Berufsjahren 2500 Euro brutto. In der Regel werden Bahnstrecken alle zehn Jahre neu ausgeschrieben. "Wir haben Angst, dass Billiganbieter die Zuschläge erhalten und wir einen Gehaltsverlust von 200 bis 300 Euro schlucken müssen", sagt Wegner.

Die Hauptlinie der Nord-Ostsee-Bahn nach Sylt könnte 2015 den nächsten Betreiber bekommen. Die GDL fordert deshalb einen Rahmentarifvertrag, der die Berufsjahre verbindlich für alle Betreiber festlegt. Für Wegner wäre das gut, er fährt seit mehr als 30 Jahren Züge. Früher im Osten bei der Reichsbahn, heute für die Nord-Ostsee-Bahn zwischen Hamburg und Sylt, zwischen Husum und Kiel.

Auch die übrigen Forderungen der GDL klingen eigentlich nicht anstößig: Was ist schon dagegen einzuwenden, dass alle 26 000 Lokomotivführer in Deutschland eine einheitliche Bezahlung auf dem Lohn-Niveau der Deutschen Bahn AG erhalten - egal ob im Fern-, Nah- oder Güterverkehr? Die GDL fordert, dass Lokführer nicht gekündigt werden können, wenn sie arbeitsunfähig werden, weil sich ein Mensch vor ihren Zug geworfen hat.

Zu Beginn des Streiks verkündete GDL-Chef Claus Weselsky: "Wir können auch mehr." Damit sollte er recht behalten. Nicht jedoch mit der Aussage, die er im Abendblatt-Interview im Mai machte: "Bis zum Sommer halten die Arbeitgeber nicht durch." Das galt zwar für andere Privatbahnen, mit denen sich die GDL mittlerweile in Schlichtungsverfahren befindet. Nicht jedoch für die NOB.

Die Nord-Ostsee-Bahn verweist auf einen Abschluss, den sie mit einer anderen Bahngewerkschaft erzielt hat: der weitaus größeren Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG). Der Vertrag sieht vor, dass zwischen Bahn AG und Privatbahnen ein maximaler Lohnabstand von 6,25 Prozent besteht. "Der Arbeitskampf bei der Nord-Ostsee-Bahn ist nicht notwendig", stichelt EVG-Sprecher Oliver Kaufhold.

Warum ist die NOB so stur? Nach außen hin erscheint das Unternehmen fast wie ein mittelständischer Betrieb. Tatsächlich gehört die NOB zum größten privaten Verkehrsunternehmen in Deutschland: Veolia. Der Konzern hat rund 4600 Mitarbeiter und ist in ganz Deutschland aktiv, vor allem in Osten. Im Osten liegen die Löhne für Lokomotivführer bis zu 30 Prozent unter denen im Westen. So wird auch klar, warum der Mutterkonzern gegen die von der GDL geforderte einheitliche Bezahlung der Lokführer ist. Werden Bahnstrecken neu ausgeschrieben, können die Privatbahnen ihre Dienste günstiger anbieten - weil sie niedrigere Löhne zahlen. Steigen die Löhne, könnte die NOB Ausschreibungen verlieren.

Und deshalb begegnet die NOB den Streikenden anders, als diese erwartet hatten. Statt auf die Forderungen der GDL einzugehen, setzt der Arbeitgeber auf die Verführungskraft des Geldes. Das Angebot an die Lokführer: 100 Euro extra für jede Schicht während des Streiks. Die Front der Streikenden bröckelte. "Ich sehe heute einige Kollegen mit anderen Augen als früher", sagt Wegner. Er sei vor allem von jenen persönlich enttäuscht, die noch immer heimlich auf einen Erfolg des Streiks hofften, aber trotzdem das "Schmiergeld" einstrichen.

Es dauerte nicht lange, bis der Streik an Wucht verlor, sagt Wegner. "Schon früh waren die Ersten nervös." Einige Lokführer hatten Übernahme-Angebote von Veolia-Töchtern. Andere sahen sich gleich nach anderen Unternehmen um.

Dann holte sich die NOB noch Leihlokführer von anderen Bahnen. Lokführer Wegner hofft, dass die Engpässe und Kosten dieser Aktionen die NOB und den Mutterkonzern Veolia doch noch umstimmen.

Im August musste auch GDL-Chef Claus Weselsky einräumen, "dass wir mit unseren Aktionen nicht durchkommen". Im August fanden auch die letzten Gespräche zwischen der Gewerkschaft und der NOB statt.

Anfang dieser Woche bat das Abendblatt um ein Gespräch mit der NOB-Geschäftsführerin Martina Sandow. Antwort der Pressesprecherin: "Wir verstehen das Interesse der Öffentlichkeit an den handelnden Personen, jedoch glauben wir, dass es vorrangig darum gehen muss, den Tarifkonflikt zu lösen." Gestern schickte die Sprecherin im Auftrag ihrer Chefin einige dünne Zitate. "Wir waren uns des Drucks, schnellstmöglich zum Regelfahrplan zurückkehren zu müssen, jederzeit bewusst und haben deshalb die ganze Zeit alles darangesetzt, den Konflikt auf dem Verhandlungsweg zu lösen. Dieses Bestreben haben wir auch weiterhin, jedoch mussten wir parallel einen Weg finden, die Beeinträchtigungen für unsere Fahrgäste abzumildern." Von 100 Lokführern, die die NOB beschäftige, sei "noch ein geringer Teil" im Streik. "Diese Kollegen sind selbstverständlich nach wie vor unsere Mitarbeiter und können jederzeit an ihren Arbeitsplatz zurückkehren."

Vonseiten der GDL ist indes zu hören, dass eine Schlichtung nun doch noch möglich sei, vielleicht sogar kurzfristig. Sobald die NOB einer Schlichtung zustimmt, soll der Streik abgesagt werden. Die Verhandlungsposition der Gewerkschaft bei dieser möglichen Schlichtung ist schlecht. Der NOB muss vor allem das Betriebsklima retten.

Am Abstellgleis des Husumer Bahnhofs stehen am Donnerstag auch zwei Wachleute einer Security-Firma. Zwei Schwarzuniformierte für neun Streikende. "Hat wohl Reibereien gegeben", sagt einer der Wachmänner. Er steht vor dem Pausenraum der Lokführer. "Die sollen uns weiter einschüchtern", sagen die Streikenden.

100 Meter entfernt, vor einer Baracke, sitzen die Streikbrecher. Sie rauchen und trinken Kaffee aus Plastikbechern. Gefragt nach den Streikenden rollen sie mit den Augen. "Irgendwann werden die merken, dass sie zu hoch gepokert haben", sagt einer. 60 Streiktage habe er gearbeitet. Das sind 6000 Euro extra. Der Preis: "Einige Kollegen reden nicht mehr mit mir." Ein anderer schaut vom Kaffee auf. "Wissen Sie, bei diesem Streik haben alle nur verloren."