Wie viele seiner Kollegen weiß Bürgermeister Michael Koch aus Malente nicht mehr, wie er seine Gemeinde durch die Krise bringen soll.

Malente. Kurz vor dem Ortsschild "Bad Malente-Gremsmühlen" kann einem wehmütig ums Herz werden. Zur Rechten liegt das Landgut Rothensande, das in den 50er-Jahren Schauplatz der Immenhof-Kinofilme war. Und blickt man nach links, ist in der Ferne das Hallendach der berühmten Fußballschule zu sehen. Dort, wo 1974 während der Weltmeisterschaft der "Geist von Malente" beschworen wurde, war zuletzt 1994 die deutsche Fußballnationalmannschaft zu Gast. Bei der anschließenden WM in den USA schied sie schon im Viertelfinale aus. Nach Malente in die malerische Holsteinische Schweiz kam die DFB-Auswahl danach nicht mehr zurück.

Infos zum Wachstumsbeschleunigungsgesetz

Bürgermeister Michael Koch steuert seinen blauen Renault durch den Ort. Er wirkt nachdenklich. "Tja, der Geist von Malente", sagt er. Der Immenhof, König Fußball, das waren noch Zeiten. Koch hat sie nie erlebt, und den "Geist von Malente" hat Koch nie gespürt. Der Jurist kam erst 1996 als Bürgermeister hierher. Es waren seitdem trotz allem 13 gute Jahre für den gebürtigen Hamburger. Und so, wie Malente sich präsentiert, mit zwei schicken Vier-Sterne-Hotels und drei Reha-Kliniken, scheinen es auch recht erfolgreiche 13 Jahre für die 11 000-Einwohner-Gemeinde gewesen zu sein.

Kochs 14. Bürgermeisterjahr aber wird so schwierig wie keines zuvor. Eine Ursache ist das Wachstumsbeschleunigungsgesetz, dem morgen die Länder im Bundesrat zustimmen sollen. Es geht darin um Entlastungen für Familien über höhere Kinderfreibeträge und höheres Kindergeld, um niedrigere Erbschaftssteuern, Steuererleichterungen für Unternehmen und einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz für Betreiber von Hotels, Pensionen oder Gasthöfen.

All diese Maßnahmen sollen ab 1. Januar 2010 greifen und werden den Staat rund 8,5 Milliarden Euro kosten. Aber sie werden auch Wachstum bringen, glaubt die Bundesregierung. Malentes Rathauschef ist skeptisch. "Wir sind an der Grenze des Belastbaren angelangt", sagt Koch. Er gehört der CDU an, der Partei, die das Gesetz mit der FDP zusammen entworfen hat.

Mit seiner Statur und seinem Bart ähnelt der 53-jährige Familienvater ein wenig Peter Harry Carstensen. Und mit seiner Meinung über das Gesetz ist der Bürgermeister ganz auf der Linie seines Ministerpräsidenten. Der hat höchstpersönlich bei Bundeskanzlerin Angela Merkel mit seinem Veto im Bundesrat gedroht. Seinem Land steht bei einem Schuldenberg von 24 Milliarden Euro das Wasser schon jetzt bis zum Hals. Kommt das Gesetz, fehlen Carstensen ab kommendem Jahr 70 Millionen Euro an Steuereinnahmen im Landeshaushalt.

Den Kommunen in Schleswig-Holstein entgehen zeitgleich 60 Millionen Euro. Koch ist Vorsitzender des schleswig-holsteinischen Gemeindetags und hat damit eigentlich ein wichtiges Amt inne, aber er würde niemals bis zur Kanzlerin vordringen. Für Angela Merkel ist er ein Unbekannter. Er ist ja nur der Bürgermeister einer kleinen Gemeinde am nördlichen Rand der Republik. Dabei könnte Koch der Kanzlerin viel erzählen. Darüber, wie oft die große Politik ihre Beschlüsse ohne Rücksprache mit den Kommunen fasst. Darüber, wie allein die Wirtschaftskrise und die eingebrochenen Gewerbesteuereinnahmen die Gemeinde Malente in die Schuldenspirale getrieben haben.

Welche weiteren Verluste Malente wegen der nun geplanten Steuersenkungen hinnehmen muss, kann Koch nur schwer beziffern. Ganz gleich, ob der Bund den Ländern Steuerhilfen zusagt, Malente wird Geld verlieren. "Vielleicht sind es 50 000 Euro", sagt Koch, "vielleicht aber auch 100 000 oder noch mehr." Wenn die Länderchefs über "Milliardenausfälle" klagen, dann scheinen 100 000 Euro unbedeutend. Aber 100 000 Euro sind eine Menge Geld für Malente.

Koch steuert seinen Renault zum Kurpark. Dessen Feuchtwiesen direkt am Flüsschen Schwentine waren einmal der Stolz des Ortes. Gartenbauarchitekt Karl Plomin, der in Hamburg Planten un Blomen entwickelte, entwarf den Kurpark in den 60er-Jahren. Früher führte ein Holzsteg über die Feuchtwiesen. Diesen Steg gibt es nicht mehr, jedenfalls sieht die noch vorhandene Bretteransammlung nicht mehr danach aus. "100 000 Euro kostet nach unseren Berechnungen die Sanierung des Stegs. Geld, das wir im kommenden Jahr nicht haben", sagt Koch, während er durch das tiefe, nasse Gras stapft. Ohne das Wachstumsbeschleunigungsgesetz hätte Koch vielleicht genau diese 100 000 Euro noch übrig.

Der Bürgermeister blickt auf die morschen Bretter und wiederholt mehrmals, dass er eigentlich nichts gegen die Erhöhung des Kindergeldes oder eine Steuerentlastung der Unternehmen habe. Das sei ja sicher alles "sozialpolitisch und wirtschaftspolitisch begrüßenswert", sagt er. Aber dass die Regierung in dieser Krise die Nöte der Gemeinden vergessen konnte, will er nicht begreifen. "Abgehoben" nennt er das, was Merkel und Westerwelle und all die anderen da in Berlin ausbaldowert haben.

2008 nahm Malente noch 9,6 Millionen Euro ein, davon allein 1,9 Millionen Euro Gewerbesteuer. Dieses Jahr werden es nur noch 8,4 Millionen Euro sein. Die Gemeinde hat fast eine Million Euro an Gewerbesteuereinnahmen verloren. Auch der Anteil an der Einkommenssteuer ist in diesem Jahr um 200 000 Euro niedriger ausgefallen. Rücklagen gibt es keine mehr. 2010 werden die Einnahmen weiter sinken. Koch hatte es vor einem Jahr geschafft, den Schuldenstand der Gemeinde von rund sechs auf drei Millionen Euro zu senken. Jetzt wachsen die Schulden wieder in Richtung sechs Millionen.

Auch eine andere Idee der hohen Politik hat Malentes Schuldenstand steigen lassen. Für Maßnahmen aus dem Konjunkturpaket II - in Malente war es die Sanierung der Schulbauten und ein Straßenausbau - musste die Gemeinde mehr als 300 000 Euro an Krediten aufnehmen. Nein sagen zu den Konjunkturhilfen wollte Koch dann auch nicht. Der Bund zahlt schließlich jeweils 50 Prozent der Maßnahmen. Gar nichts zahlt Berlin aber für seine Vorgabe an die Kommunen, ab 2013 für alle Kinder unter drei Jahren einen Kindergartenplatz bereitstellen zu müssen. "Das wird so richtig teuer", sagt der Bürgermeister. Schon jetzt stünden die Eltern und Kita-Träger vor den Türen des Rathauses und pochten auf die Bereitstellung der Betreuungsplätze.

Koch könnte die Liste der noch drohenden Lasten nahtlos verlängern. Aber lieber packt er seine eigene "Giftliste" aus. So bezeichnet er die Instrumente, mit denen er die Einnahmen der Gemeinde selbstständig erhöhen könnte, ohne auf Bund und Land angewiesen zu sein. Er könnte endlich Parkgebühren einführen, sagt er. Die gebe es noch nicht in Malente. Aber wie erbost reagiert dann der Einzelhandel? Koch könnte auch an der Gewerbesteuer oder der Grundsteuer drehen oder das Geld bei den Touristen mit einer höheren Kurtaxe eintreiben. Aber was sagen dann die Hoteliers? "Es ist keine Lösung, die Menschen stets neu zu belasten", findet der Bürgermeister. Aber irgendwann muss er es tun: das Geld, das ihm über Steuersenkungen wegbricht, wieder über Gebühren von den Bürgern zurückholen.

Er könnte auch weiter an der Sparschraube drehen, zum Beispiel die 3000 Euro Gemeindezuschuss für den jährlichen Blumenumzug des Schützenvereins streichen oder den Strom für die Weihnachtsbeleuchtung abdrehen. Sein Spielraum ist sichtlich begrenzt. "Ich kann nicht einfach die Feuerwehr abschaffen, nur weil sich Brandschutz nicht rentiert. Und das Ausstellen von Ausweisen kann ich auch nicht beenden, selbst wenn ich damit kein Geld verdiene." Ständig werde von ihm unternehmerisches Handeln gefordert, sagt Koch, "aber eine Gemeinde ist keine Firma. Wir haben gesetzliche Pflichten."

Koch ist sich sicher, dass es so nicht weitergeht. "Malente droht, wie so vielen anderen Gemeinden auch, der Finanz-GAU." Der Bürgermeister will handeln und im kommenden Jahr eine Bürgerversammlung abhalten. Er wird die Einwohner Malentes fragen: Was ist euch wichtig? Wofür sollen wir noch Geld ausgeben, wofür nicht mehr? Die Gemeinde wird weniger für ihre Bürger leisten können, so viel steht fest.

Es ist ziemlich kalt und nass auf der Feuchtwiese ohne Steg. Koch will nun lieber dorthin, wo seine Füße trocken bleiben und Malente modern und touristisch zeitgemäß aussieht: an den Dieksee. Nirgends sieht Malente so schön aus wie hier. Die neu gepflasterte Promenade hat Regierungschef Carstensen persönlich eingeweiht. Auch ein paar neue Holzstege gibt es, und viel wichtiger: auch eine Handvoll Hotels. "Hier schlagen zwei Herzen in meiner Brust", gibt Koch zu. Er muss schon wieder an das Wachstumsbeschleunigungsgesetz denken. Diesmal an die versprochene Mehrwertsteuersenkung für Übernachtungsbetriebe von 19 auf sieben Prozent. Fast eine Milliarde wird sie den Staat an Steuerausfällen vermutlich kosten. Diese Ausfälle werden auch in Kochs Gemeinde ankommen. Wie viel Malente verliert? Koch kann es kaum abschätzen. Der Ort lebt vom Tourismus und hat immerhin 2900 Gästebetten.

Der Bürgermeister hofft zumindest, dass die Hoteliers und Privatvermieter ihre zusätzlichen Einnahmen in Sanierungen oder Ausbaumaßnahmen investieren oder zumindest die Preise senken, damit mehr Gäste kommen. Wenn die Übernachtungsbetriebe keines von beidem tun, verliert Malente noch mehr Geld.

Auf der Seepromenade, direkt vor ihrem 45-Betten-Hotel, steht Andrea Bünzen. "Ich werde die Preise nicht senken", sagt sie ohne Umschweife. Bünzens Geschäfte mit dem Drei-Sterne-Haus laufen gut. Bei ihr übernachten sogar ganze Reisegruppen. Für sie gibt es keinen Grund, billiger zu werden. "Aber ich werde die Bäder neu machen", wirft sie ein.

Bürgermeister Koch lächelt die Hotelchefin an. In seinem Kopf scheint es zu rattern: 45 neue Bäder bedeuten Aufträge an die hiesige Wirtschaft und damit höhere Gewerbesteuereinnahmen. So könnte das Wachstumsbeschleunigungsgesetz vielleicht funktionieren. Aber Koch ist Realist. Die Schulden werden erst einmal weiter steigen.

Im Sommer 1994, nach der WM-Pleite in den USA, da klagten einige Nationalspieler, sie hätten sich in der Fußballschule Malente eingesperrt wie in einer Kaserne gefühlt. Genauso kommt sich auch Bürgermeister Koch vor. Eingesperrt von der Bundesregierung. An den "Geist von Malente" will er nicht mehr glauben.