Die Süßigkeiten von Niederegger gehen weltweit in 32 Länder. Das Rezept der Rohmasse ist ein streng gehütetes Geheimnis der Familie.

Lübeck. Unschuldig liegen sie auf dem Laufband, ohne einander zu berühren. In Reih und Glied, ein scheinbar unendlicher Strom von Marzipanherzen. In wenigen Tagen werden sie ihre Unschuld verloren haben, wenn Kinder sich beim Adventstee um sie kabbeln, Frauen frustriert von der Waage steigen, der nächste Zahnarztbesuch fällig wird. Und sie werden ihren Beitrag zur mehr als 200 Jahre langen Erfolgsgeschichte der Niederegger-Dynastie geleistet haben, dem Aushängeschild Lübecks seit 1806.

Noch aber strömt der süßliche Duft von frischem Marzipan durch die Manufaktur im Lübecker Gewerbegebiet. Arbeiter wuseln durch die Produktionshallen, die wie ein riesiges, wohlriechendes Labyrinth über Laufbänder und Rohre verbunden sind. In weißer Schutzkleidung und sterilen Hauben überwachen Niederegger-Angestellte die Maschinen, schaufeln Rohmasse, falten Kartons, bemalen und verpacken die Kalorienbomben, drücken Knöpfe, putzen, warten und quatschen. 200 Saisonkräfte verstärken die Stammbelegschaft von 500 Angestellten, damit die Bänder zwischen sechs und 22 Uhr laufen können, sechs Tage die Woche. Rund um Weihnachten verarbeiten die Beschäftigten täglich 30 Tonnen Rohmasse und verschicken die süßen Produkte in 32 Länder. In diesen hektischen Tagen erzielt Niederegger 60 Prozent des Jahresumsatzes, der auch im Krisenjahr 2009 stabil geblieben ist. Schätzungen zufolge liegt er zwischen 100 und 200 Millionen Euro - die Niederegger-Dynastie wahrt ihre geschäftlichen Geheimnisse.

Die Reise der Marzipanherzen

Die Reise der Marzipanherzen in die Mägen der Verbraucher beginnt in grob gewebten Jutesäcken voller Mandeln. Ein Knopfdruck im ersten Stockwerk, dann rattert der Rohstoff für Marzipan kiloweise durch einen Trichter abwärts ins Erdgeschoss. Dort brüht eine gewaltige Maschine die Mandeln auf, bis ihre Schalen abfallen. "Achtung, heiß" steht auf den Rohren, ein Schild schreibt das Tragen eines Gehörschutzes vor. Die nackten Mandeln gleiten über ein Laufband an sechs Arbeiterinnen vorbei, flink klauben diese übrig gebliebene Schalen heraus. Jeder Handgriff sitzt. Genauso haben bereits vor 200 Jahren Lübeckerinnen die Qualität der Zutaten überwacht.

Die Tradition spielt in der niedereggerschen Erfolgsgeschichte eine Hauptrolle. Über die Jahrhunderte ist der Produktionsprozess nahezu unverändert geblieben. "Natürlich hat auch bei uns die Elektronik Einzug gehalten", sagt Firmenchef Holger Strait. "Wir setzen Maschinen aber nur da ein, wo die Qualität nicht darunter leidet." So hat es bei Niederegger noch nie betriebsbedingte Kündigungen gegeben. Auch die Rezeptur, die das Unternehmen zum Weltmarktführer für Qualitätsmarzipan gemacht hat, ist Tradition: Zwei Drittel Mandeln, ein Drittel Zucker, dazu ein Schuss vom Familiengeheimnis, das so gut gehütet wird wie die Erfolgsformel von Coca-Cola.

Dieses Mandel-Zucker-Gemisch brodelt über offener Flamme in einem von zehn Röstkesseln. Der Steinboden ist feucht, die Arbeiter schwitzen, Dampf steigt auf, kriecht die in Niederegger-Farben dunkelrot und weiß gestrichenen Wände hoch. Der klebrig-gelbe Teig köchelt 45 Minuten, dann hebt ihn ein Arbeiter mit einer Schaufel in eine überdimensionierte Bronzewanne, das sogenannte Kühlschiff.

Es zischt und dampft

Es zischt, es dampft, als per Knopfdruck Trockeneis in die zähe Masse strömt. Derart abgekühlt bewegt sich der Teig über ein weiteres Laufband in eine Presse. Heraus kommt ein Teigblock, den eine Arbeiterin in rote Folie hüllt. Zwei Tage wird es dauern, bis er im Kühlraum die richtige Konsistenz erhält und zu Marzipanherzen, -broten, -kartoffeln oder den übrigen 300 Artikeln im Sortiment verarbeitet werden kann. Zur Lieblingssüßigkeit der Norddeutschen, zumindest in der Weihnachtszeit.

Dass das Marzipan diesen Aufstieg geschafft hat, ist zum großen Teil der Familie von Holger Strait zu verdanken. Er führt das Unternehmen in siebter Generation, ein typischer Hanseat mit goldenen Manschettenknöpfen an den Hemdsärmeln. Seine braunen Augen blitzen freundlich unter blonden Haaren.

Vor 60 Jahren kam Strait als Urururur-Enkel des Firmengründers Johann Georg Niederegger zur Welt. Neben den Röstkesseln in der Marzipanfabrik, wo seine Eltern im zerstörten Lübeck Unterschlupf gefunden hatten - die Engländer hielten das Wohnhaus des Niederegger-Clans besetzt. "Kein Wunder, dass mich das Familienvirus angesteckt hat", sagt Strait und wickelt ein Marzipanherz aus rot glänzendem Stanniolpapier. Als kleiner Junge bekam er nur sonntags ein Stück, heute nascht er jeden Tag - berufsbedingt. Holger Strait gehört zum Kreis der Produktentwickler, die die Marke Niederegger vorantreiben. "Wir wollen kein Massenhersteller sein, sondern uns durch die Vielfalt unserer Artikel auszeichnen", erklärt Strait seine Strategie. "Wir trauen uns alles zu, wo Marzipankompetenz gefragt ist." Also umfasst das Sortiment seit einigen Jahren auch Heißgetränke, Dominosteine und Nougatprodukte. Die allmorgendliche Kostprobe ist für Holger Strait kein Opfer: "Ich brauche jeden Tag mindestens 100 Gramm Marzipan - abends zu einem Glas Rotwein auch mal mehr." Das gönnt er auch den Angestellten: Naschen in der Manufaktur ist ausdrücklich erlaubt.

So erreichen nicht alle Marzipanherzen ihren Zielort am Ende des Laufbandes. Zu appetitanregend duftet die Rohmasse, die als Block in eine Walze fährt und zu einzelnen Stücken gepresst wieder herauskommt. Der endlose Strom der Marzipanherzen gleitet in Reih und Glied auf dem Laufband in eine Schokoladendusche. Einmal von oben, einmal von unten, dann geht es in die Kühlung, um die 30 Grad heiße Schokolade zu festigen. Tack tack tack, im Sekundentakt umhüllt eine Maschine die Herzen mit rotem Stanniolpapier. Zehn Arbeiterinnen greifen die Kalorienbomben vom Band und sortieren sie flink in weiße Kartons mit dem Niederegger-Logo. Fertig zum Verschweißen und Versenden.

Auch in den ersten Stock, wo die von Firmenkunden bestellten Produkte kunstvoll per Hand gefertigt werden, verirrt sich kaum ein Mann. Hier entstehen fein modellierte Containerschiffe mit 20 Zentimeter Länge, Firmenwappen, Glücksschweinchen, Weihnachtsmänner und alles andere, was die Kundschaft wünscht. Kunstvoll mit Zuckerguss verziert oder mit Lebensmittelfarbe "geschminkt", wie es im Niederegger-Slang heißt. Nicht nur hier sind die Frauen in der Überzahl: 80 Prozent der Beschäftigten sind weiblich. In der Geschäftsführung sitzen Männer und Frauen zu gleichen Teilen. Ein Viertel des Familienunternehmens gehört Straits Ehefrau Angelika, deren Machtbereich das Niederegger-Café im Lübecker Stadtzentrum umfasst. Und eines nicht allzu fernen Tages wird auch der Chef der Marzipandynastie eine Frau sein: Die beiden Töchter von Holger und Angelika Strait freuen sich bereits darauf, Lübecks Aushängeschild auch in achter Generation erfolgreich zu führen.