Mit Viagra und dem Fettkiller Xenical kamen Lifestyle-Medikamente in Mode. Heute greifen viele zu Tabletten, wenn sie mit sich unzufrieden sind.

Zu dick, zu schüchtern, impotent oder zu viele Falten? Immer mehr Menschen, die mit ihrem Erscheinungsbild oder ihrem seelischen Befinden unzufrieden sind, greifen zu Medikamenten, ohne wirklich krank zu sein. Lifestyle-Medikamente nennen Mediziner diese Substanzen, die eingesetzt werden, um das individuelle Wohlbefinden zu steigern und die Lebensqualität zu verbessern. Mit der Frage, welchen Einfluss der Lebensstil auf die Gesundheit und die Einnahme von Medikamenten hat, beschäftigt sich Dr. Wolfgang Harth, Oberarzt der Klinik für Dermatologie und Phlebologie am Vivantes-Klinikum im Friedrichshain in Berlin, schon seit Jahren. Fest steht für den Dermatologen und Psychotherapeuten, dass Lifestyle-Medikamente seit den vergangenen Jahren immer mehr an Bedeutung gewinnen. Dabei sind es nicht nur die Klassiker wie das Potenzmittel Viagra, die Haarwuchspille Propezia oder der Fettkiller Xenical, die immer stärker gefragt sind. Es werden auch immer mehr Substanzen als Lifestyle-Medikamente zweckentfremdet, die ursprünglich streng der Behandlung von Krankheiten vorbehalten waren. Als Beispiel nennt Harth das Mittel Ritalin, das eigentlich zur Behandlung des Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms bei Kindern angewendet wird, aber auch von Erwachsenen eingenommen wird, um die geistige Leistungsfähigkeit zu steigern. Medikamente zur Therapie von Schilddrüsenkrankheiten und Diabetes sowie Abführmittel werden missbraucht, um Gewicht zu reduzieren. Hormone sollen den Muskelaufbau fördern, Antiaknemittel fettigen Glanz der Haut beseitigen. Und wer zu schüchtern ist und Kontaktschwierigkeiten hat, greift zu bestimmten Antidepressiva.

Doch das Phänomen ist nicht neu. Das erste Lifestyle-Medikament war die Verhütungspille für die Frau, die vor 40 Jahren auf den Markt kam. "Sie machte es möglich, die individuelle Sexualität auszuleben, ohne sich Sorgen um eine Schwangerschaft machen zu müssen", sagt Harth. Dann folgte wenig später die Antiaging-Welle, bei der man davon ausging, dass die Zufuhr von Spurenelementen, Kräutern, Mineralstoffen und Vitaminen den Körper so aufbauen kann, dass man besser und länger leben kann. Der große Boom der Lifestyle- Medikamente aber begann vor zehn Jahren, als Viagra auf den Markt kam, dicht gefolgt von der Haarwuchspille Propezia und den Antifettpillen Xenical und Reductil. Seitdem wird die Liste der Lifestyle-Medikamente immer länger.

Dabei werden eventuelle Nebenwirkungen in Kauf genommen. Auch dass die meisten dieser Medikamente verschreibungspflichtig sind, ist keine wirkliche Hürde. Es gibt einen riesigen Schwarzmarkt.

"Der Grund für die steigende Nachfrage nach solchen Medikamenten ist meist der Wunsch nach ewiger Jugend, Schönheit und Potenz. Die Mittel werden eingenommen, um körperliche Befunde zu beeinflussen, die die Folge eines natürlichen Alterungsprozesses sind", sagt Harth.

Aber der Konsum dieser Mittel fällt auch auf den fruchtbaren Boden einer gesellschaftlichen Entwicklung. "Früher haben die Menschen schwer gearbeitet und waren mit 45 alt und körperlich verbraucht. Heute gehen sie mit 65 in Rente, haben sich an einiges an Werten geschaffen, haben vielleicht noch einen jüngeren Partner und wollen das Leben genießen, am liebsten noch so wie ein 24-Jähriger", so Harth. Keiner wolle alt, dick und hässlich werden, und der Trend, mit Medikamenten dagegen anzukämpfen, nehme rasant zu.

Diese Entwicklung muss man nicht verteufeln, aber sie zeigt, dass unsere Gesellschaft medikalisiert wird. Ein Medikament soll Hilfe bringen, wo eigentlich Änderungen des Lebensstils gesundheitlich sinnvoller wären. Dabei könnte man bestimmte Symptome auch als Chance begreifen, ohne gleich zur passenden Pille zu greifen. "Zum Beispiel hat eine Untersuchung im vergangenen Jahr ergeben, dass die Anzahl der Arbeitsstunden und die Stressbelastung in direkten Zusammenhang zu setzen sind zu Impotenzproblemen, oder dass sich Partnerschaftsprobleme an Potenzstörungen zeigen", erzählt Harth. Das könnte auch ein Anreiz sein, über Lebensstiländerungen nachzudenken. Wer unruhig ist, kann sich um ein besseres Stressmanagement bemühen und zum Beispiel autogenes Training erlernen, anstatt eine Tablette einzunehmen.

Und was auch immer an Mitteln und Substanzen noch auf den Markt kommt und ein besseres, schöneres Leben verspricht, die beste Garantie für ein möglichst langes gesundes Leben bleibt der gesunde Lebensstil. "Wer normalgewichtig ist, sich ausreichend bewegt, keine Gifte wie Alkohol und Nikotin zu sich nimmt, sich nicht zu stark der Sonneneinstrahlung aussetzt und immer mal wieder das eigene Verhalten kritisch überdenkt, tut immer noch das Beste für sein Wohlbefinden und seine Gesundheit, auch wenn es wesentlich anstrengender ist." Natürlich ist es einfacher, eine Tablette einzunehmen, aber wie in vielen anderen Situationen auch sind die einfachen Lösungen nicht immer die besten.