Gerade in der Pubertät sind Kinder, vor allem Mädchen, anfällig für ein gestörtes Essverhalten. Ein Teufelskreis tut sich auf. Helfen können dann nur noch Profis.

Ein Apfel am Morgen, eine Karotte und eine Kartoffel zum Mittag und am Abend eine Scheibe Brot mit Käse, aber die fettarme Variante. Mädchen, die an einer Magersucht leiden, halten selbst das noch für zu viel. Ihr oberstes Gesetz lautet: so wenig Kalorien wie möglich zu sich nehmen und am liebsten ganz auf das Essen verzichten. Selbst wenn sie nur noch Haut und Knochen sind, fühlen sie sich noch zu dick. "Das ist dann eine Störung des Körperbildes", sagt Prof. Michael Schulte-Markwort, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychosomatik am Universitätsklinikum Eppendorf.

Diese seltsame Selbstwahrnehmung ist typisch für die Magersucht oder auch Anorexia nervosa, wie sie medizinisch genannt wird. Mehr als 100 000 Menschen in Deutschland, vor allem Frauen, sind von der Essstörung betroffen. "Von einer Magersucht sprechen wir dann, wenn der Body Mass Index unter 17,5 liegt. Bei Heranwachsenden muss man dabei allerdings noch die Altersperzentilen berücksichtigen, den Vergleich mit dem Durchschnitts-BMI von Mädchen derselben Altersgruppe", sagt der Kinderpsychiater.

Die Krankheit beginnt meist im Alter zwischen 14 und 18 mit zunächst harmlosen Versuchen, ein paar Kilogramm abzunehmen. "Gerade die Pubertät ist eine sensible Phase, weil sich in dieser Zeit die Selbstwahrnehmung entwickelt und der Körper sich verändert. Dann reicht als Auslöser manchmal schon eine beiläufige Bemerkung eines Freundes über die Hose, die zu eng sitzt, oder die positive Rückmeldungen, wenn ein Mädchen ein wenig abgenommen hat", sagt Dr. Carola Bindt, leitende Oberärztin in der Kinderpsychosomatik am UKE. "Und aus harmlosen Abnehmversuchen kann eine selbstzerstörerische Spirale werden, die von Eltern und Freunden nicht mehr zu stoppen ist. Weder gut gemeinte Ratschläge noch Druck können etwas ausrichten gegen das Hochgefühl, das das Hungern, dieses Verneinen jeglicher Bedürfnisse, die Fähigkeit zur totalen Kontrolle bei den Mädchen auslöst", sagt Bindt.

Hinzu kommt, dass die Mädchen sich anfangs nicht zu dünn fühlen und nicht krank, sondern nur falsch wahrgenommen von ihrer Umwelt. Dann beginnen sie, die Gewichtsabnahme zu verheimlichen. "Die Täuschungsmanöver, das Verheimlichen des Gewichts sind oft nur Ergebnis einer Wechselwirkung, um der Aufmerksamkeit der Eltern und dem Druck, mehr zu essen, auszuweichen. Die Mädchen wählen eher den Weg der Konfliktvermeidung, wollen es allen recht machen und scheuen die offene Verweigerung", sagt die Kinderpsychiaterin.

Typisch ist auch, dass die Mädchen beginnen, für die Familie zu kochen und selbst nicht an den Mahlzeiten teilnehmen, mit der Begründung: "Ich habe schon in der Küche gegessen."

Bei solchem Verhalten sollten Eltern aufmerksam werden. "Auch wenn ihre Tochter auf jegliche Süßigkeiten verzichtet, rapide an Gewicht abnimmt oder schon sehr dünn ist und immer noch meint, die Oberschenkel seien zu dick, sollten Eltern eine Magersucht in Betracht ziehen und das Kind beim Hausarzt oder Kinderpsychotherapeuten vorstellen", rät Schulte-Markwort. Ohne professionelle Hilfe gibt es kein Entkommen aus diesem Teufelskreis, dem Immer-noch-dünner-werden-Wollen des Mädchens und den hilflosen Versuchen der Eltern, ihr Kind wieder zu normalem Essverhalten zu bewegen.

Ambulante Therapie ist häufig nicht möglich, die Mädchen müssen stationär aufgenommen werden. "Unumgänglich ist eine Klinikaufnahme, notfalls auch gegen den Willen des Kindes, wenn es sich in einem schlechten Allgemeinzustand befindet und bei sehr fortgeschrittenem Untergewicht", betont die Kinderpsychiaterin.

"In der Klinik wird mit den Mädchen eine Gewichtszunahme verabredet, meist ein Kilogramm in der Woche. Und je mehr die Patientinnen zunehmen, umso mehr Freiheiten erhalten sie. "So wird zum Beispiel das anfängliche Sportverbot mit steigendem Gewicht Schritt für Schritt gelockert", sagt Schulte-Markwort. Dies ist ein Baustein der Verhaltenstherapie, die zusammen mit tiefenpsychologischen Verfahren in der Behandlung der Mädchen angewandt wird. Zudem gibt es eine spezielle Betreuung beim Essen. "damit sie wieder ein Gefühl für normale Portionen bekommen", sagt Bindt.

In der Psychotherapie tritt nach der akuten Phase die Beschäftigung mit dem Gewicht eher in den Hintergrund. Dann geht es darum, sich dem Gefühl des Erwachsenwerdens zu stellen. "Die Pubertät mit ihren Anforderungen, ist für diese Mädchen sehr angstbesetzt und von Selbstzweifeln geprägt. Auch Emotionen zu zeigen fällt den Mädchen sehr schwer. In der Therapie geht es darum, Angst zu überwinden und aus der Überanpassung herauszufinden, zu lernen, Gefühle zu äußern", erklärt die Kinderpsychiaterin.

"Oft sind Medikamente nötig, weil die Mädchen enormen Bewegungsdrang haben, und in die Psychotherapie wird auch die Familie einbezogen", ergänzt Schulte-Markwort. Zwischen drei und sechs Monate blieben die Mädchen in der Klinik und müssen danach noch ambulant behandelt werden. Denn auch wenn das Gewicht sich wieder im Normalbereich bewegt, überwunden ist die Essstörung damit noch nicht. "Im Durchschnitt dauert die Erkrankung sieben Jahre. 30 Prozent der Mädchen haben auch als erwachsene Frauen noch Probleme mit dem Essen und bewegen sich ihr Leben lang an der unteren Grenze des normalen Gewichtes" so Bindt.

Für einen Teil der betroffenen Mädchen endet die Krankheit sogar tödlich: Zehn bis zwanzig Prozent der Patientinnen sterben an der Erkrankung, häufig durch Suizid.