Zu wenig Zeit für Patienten, zu viel Papierkram, zu schlechte Bezahlung - eine hausärztliche Praxis in Hamburg zu führen, erfordert heutzutage Opfer. Dr. Antonio Medina macht trotzdem weiter.

Dienstag, 1. April, 9 Uhr: Ansturm auf den Empfangstresen. Im Wartezimmer ist es rappelvoll, das Telefon klingelt ununterbrochen, Patienten geben sich die Klinke in die Hand. Der eine braucht ein Rezept, der nächste eine Überweisung, andere nur Termine und manche kommen als Notfall. Wenn, dann gibt es jetzt noch etwas zu holen - schließlich ist Quartalsbeginn, das Praxisbudget noch unangebrochen. Nebenan im Behandlungsraum Nummer Zwei rauft sich Antonio Medina (51) die Haare: Der praktische Arzt möchte sich jedem seiner Patienten ausgiebig widmen, aber er weiß schon jetzt, dass er das zeitlich kaum schaffen wird. Geschweige denn finanziell, denn die sprechende Medizin, das heißt das Zuhören, Beraten, Diagnostizieren und Kümmern, kommt im Leistungskatalog der Gebührenordnung nicht vor. Es gibt schlicht kein Budget dafür. "Wie soll man Zuwendung auch messen?", sagt Antonio Medina. "Ein EKG oder ein Ultraschall können viel einfacher kalkuliert und abgerechnet werden."

Ungefähr 40 Euro erhält er pro Patient im Quartal - egal, wie oft dieser zur Behandlung kommt. Dass sich das bei den vielen älteren Patienten kaum rentiert, liegt auf der Hand. "Eine Hausarztpraxis ohne Privatpatienten ist schlicht defizitär. Mit Glück und unternehmerischem Geschick erwirtschaftet die Kassenpraxis nicht viel mehr als die laufenden Kosten. Man lebt vom privatärztlichen Honorar. Und das ist nicht beliebig steigerbar." Für Antonio Medina bedeutet das, dass er mehr Zeit in seine Nebentätigkeit als Berater investiert, mittlerweile dreimal pro Woche.

Seine Praxis liegt nicht in den neuen Bundesländern und auch nicht in einem Randbezirk von Hamburg, sondern in Barmbek-Süd. Dort kommen laut Statistischem Landesamt Nord zwischen 450 und 700 Patienten auf einen Arzt - gutes Mittelfeld also. Trotzdem ist Antonio Medina, der seit 17 Jahren an der Brucknerstraße praktiziert, verstimmt: zu viel Arbeit bei geringer Wertschätzung. Ärztemangel, Versorgungslücken, Discount-Medizin - in den vergangenen Tagen wurde viel über dieses Thema in Hamburg diskutiert. Barbara Heidenreich, Sprecherin der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg (KVH), setzt dagegen: "Die Versorgungssituation in Hamburg ist im Vergleich zu Flächenstaaten wie beispielsweise Brandenburg gut. Wir haben die freie Arztwahl, eine hohe Ärztedichte, dazu eine gute Versorgung auf allen Spezialgebieten sowie einen hohen Qualifizierungsstandard der Mediziner."

Aber auch sie gibt zu, dass die Gesundheitsreform die Situation nicht einfacher gemacht hat, insbesondere für die Hausärzte. Sie haben mit geringen Mitteln und zu hoher Arbeitsbelastung zu kämpfen, leiden nicht zuletzt unter zu viel Bürokratie. Man müsse schon mit Leib und Seele Arzt sein, um das Pensum erfüllen zu können. "Ärzte sind nicht mehr nur Patientenversorger. Sie müssen gleichzeitig Betriebsmanager mit rechtlichem Know-how sein, um eine Praxis führen zu können", sagt Heidenreich. Dabei ist ein Hausarzt zuallererst Ansprechpartner bei unbestimmten Beschwerden und eine Vertrauensperson, oft seit Jahren für die ganze Familie. Eine junge Mutter, deren Kind Downsyndrom hat, ein schwer übergewichtiger Mann, der um die Bewilligung zur Kur kämpft oder eine 80-jährige Patientin, die unter ihrer Einsamkeit leidet - für sie alle hat Antonio Medina ein Ohr. Er macht das gern, schließlich heißt es ja auch Sprechstunde.

Wäre da nicht die Bürokratie. Etwa ein Drittel der Zeit, die ein Patient in der Praxis verbringt, braucht Antonio Medina im Anschluss für den Verwaltungsaufwand. Dazu gehören die Lektüre und Interpretation von Befunden, Internetrecherche, Abrechnung und immer wieder das Studieren neuer Gebührenverordnungen. Ein Beispiel: Allein die Anleitung zum Ausfüllen eines Massage- oder Krankengymnastik-Rezeptes ist 84 Seiten stark. Auf zehn Stunden pro Woche summiert sich diese Arbeit; drei Stunden wöchentlich bringt der Arzt für die Praxisführung auf. Hinzu kommen Fortbildungen, Hausbesuche sowie der kassenärztliche Notdienst einmal im Monat. Natürlich bringe ihm seine Arbeit noch Spaß, auch, wenn sie mittlerweile mit viel Idealismus und Opferbereitschaft verbunden sei. "Ich bin mit einem hohen ethischen Anspruch angetreten. Aber ich fühle mich diskriminiert, weil meine Arbeit, die ich in einer 65-Stunden-Woche erledige, einfach nicht honoriert wird. Ich subventioniere die Praxis durch meine Anwesenheit."

Auf zehn Euro schätzt er den durchschnittlichen Stundenlohn der Hausärzte. Traumberuf mit Besserverdiener-Chancen? Fehlanzeige. Der praktische Arzt ist froh, wenn er vom verbleibenden Monatslohn seine Familie ernähren kann. Statt den Mittwochnachmittag auf dem Golfplatz zu verbringen, empfängt Antonio Medina Patienten in seiner Praxis. Den freien Freitagnachmittag nutzt er für Fortbildungen.

Ein Blick ins Gebühren-Handbuch macht die strenge Budgetierung deutlich: Für einen Gesundheits-Check-up mit Ganzkörperuntersuchung, Blutabnahme und EKG kann ein Arzt 31,66 Euro brutto abrechnen. Ein Hausbesuch bei einem Privatpatienten wird mit 42,90 Euro bezahlt, bei einem Kassenpatienten sind es nur noch 19,48 Euro. Ist das Quartalsbudget zu diesem Zeitpunkt bereits aufgebraucht, erhält der Allgemeinmediziner nur noch die Wegepauschale von bis zu sechs Euro. Aus diesem Grund haben viele seiner Kollegen dieses Zusatzgeschäft bereits aufgegeben.

Hätte Antonio Medina heute noch einmal die Wahl, er würde wohl nicht wieder Medizin studieren. Mittlerweile überlegen sich junge Ärzte auch sehr genau, ob sie das Risiko einer eigenen Praxis eingehen wollen. Ihnen einen Blick in den Praxisalltag zu ermöglichen, könnte die Branche attraktiver machen. Eine Option, die die KVH in Erwägung zieht. Barbara Heidenreich ist optimistisch: Mit der neuen Euro-Gebührenordnung 2009 sollen Hausärzten mehr Mittel zur Verfügung stehen. Die Belastung werde dann zwar nicht weniger werden, aber die Bezahlung zumindest eher angemessen.