Sportliche Betätigung führt durch Ausschüttung von Endorphinen zum Glücksgefühl. Wer jedoch in der Freizeit damit übertreibt und sein Privatleben darüber vernachlässigt, schadet seiner Gesundheit.

Ist Melanie sportsüchtig? Vor drei Jahren begann die 18 Jahre alte Schülerin mit dem Kickboxen. Das brachte Spaß, schnell kam sie zweimal in der Woche zum Training, hinzu kamen ein Stretching-Termin und am Freitag "Kondi-Boxen", also Konditionstraining. An den Wochenenden gab es Wettkämpfe, am Ende trainierte Melanie zwei bis drei Stunden am Tag.

Dann zogen die Eltern die Notbremse. Melanie bekam "Boxverbot" an drei Tagen in der Woche, auch die Wettkampfteilnahme war nicht mehr erlaubt. Wie hat sie den Wechsel verkraftet? "Die ersten Wochen war ich an den trainingsfreien Tagen total hippelig und aggressiv", erinnert sie sich. Doch nach einem Monat der "reduzierten Dosis" wurde es besser. Heute weiß sie kaum noch, wie sie das stundenlange Training einst in ihren Tagesablauf hatte hineinpressen können.

Sportsucht? Klaus-Michael Braumann (58) verzieht das Gesicht. Das Wort liegt ihm schwer im Magen. Alle zwei Jahre, so berichtet der Sportmediziner aus Hamburg, komme das Thema auf die Agenda der Medien. In der Folge seien die Zeitungen voll, und jede "faule Couchpotatoe", so der schlagfertige Professor mit einem Hang zur Provokation, habe mal wieder "ein Argument, den Hintern gar nicht mehr hochzukriegen".

Seit 1993 leitet Klaus-Michael Braumann das Institut für Sport- und Bewegungsmedizin an der Universität Hamburg. Gegründet wurde das Institut bereits Mitte der 60er-Jahre. Die Olympischen Spiele 1972 in Deutschland waren die Ursache: Deutsche Spitzensportler sollten dafür optimal vorbereitet werden, viele Bundesländer gründeten daraufhin eigene sportmedizinische Zentren. Um Spitzensportler kümmert sich Klaus-Michael Braumann immer noch regelmäßig, so zum Beispiel um die Athleten des Olympiastützpunkts Hamburg/Schleswig Holstein, aber auch um die Freezers oder den FC St. Pauli. All diese nutzen das Institut heute als Dienstleister zum Aufbau der eigenen Fitness. Immer häufiger kommt auch Otto Normalverbraucher. Braumann und sein Team erstellen nicht nur die Diagnosen, sondern viel wichtiger, einen ausgefeilten Trainingsplan. Wie erfolgreich das Konzept ist, bewies die Stiftung Warentest im vergangenen Jahr: Die Hamburger belegten in einem bundesweiten Ranking unter 13 getesteten sportmedizinischen Instituten den ersten Platz.

Braumanns Alltagserfahrung: Die meisten aktuellen Krankheiten haben ihre Ursache nicht in zu viel, sondern in zu wenig Bewegung. Das bedauert Braumann, denn sportliche Betätigung verursacht bei fast allen Menschen durch die vermehrte Ausschüttung von Endorphinen ein Glücksgefühl. Die Wirkung der freigesetzten Endorphine entspricht, sehr vereinfacht ausgedrückt, der Wirkung von Drogen, deshalb nennt man Endorphine auch körpereigene Opiate.

Ab wann genau durch Sport ein Suchteffekt mit körperlichen Entzugserscheinungen, wie bei Drogen-, Alkohol- oder Nikotinsucht auftritt, sei nicht erwiesen.

Dabei will Braumann das Problem nicht verniedlichen. Selbstverständlich gebe es Suchtphänomene in verschiedenen Sportarten. Die bekannteste ist die "Runners Addiction", die "Laufsucht". Wie sehr Laufen zum Lebenszweck werden kann, hat der drahtige Braumann aus eigener Erfahrung kennengelernt.

Als junger Mann war er Mittelstreckenläufer, trainierte also über die Distanzen zwischen 800 und 5000 Metern und absolvierte zwei Marathonläufe. In vielen Trainingsgruppen geht es nur noch um das eine Thema: "Da unterhält man sich abends bei der Party nicht über das Kino, sondern über Blasen an den Füßen, die richtigen Schuhe und das beste Laufergebnis."

Wenn das Privatleben nur noch ein Thema kennt, dann kippt die Leidenschaft zur Sucht. Braumann selbst konnte ohne Probleme aussteigen. Die Kickboxerin Melanie brauchte dazu die Hilfe ihrer Eltern.

"Wirklich gefährlich ist extremes Sporttraining vor allem dann, wenn es mit einer Essstörung zusammentrifft", sagt Prof. Detlev O. Nutzinger, ärztlicher Direktor der Medizinisch-Psychosomatischen Klinik in Bad Bramstedt. Die Frauen und Männer, die hierherkommen, leiden unter Essstörungen in ihren schlimmsten Formen: Bulimie, Ess-Brechsucht, und Anorexie, Magersucht. Und: Einige wenige - Nutzinger spricht von zirka fünf Prozent - treiben dazu extrem viel Sport.

Doch wie schon der Sportmediziner Braumann nimmt auch der Psychotherapeut Nutzinger das Wort Sportsucht nur mit "großer Vorsicht" in den Mund und redet stattdessen lieber von einem "exzessiven Freizeitverhalten". Bei den Patienten, die zu ihm kommen und zusätzlich zu der Esssucht über eine Sportmanie klagen, unterscheidet Detlev Nutzinger zwischen zwei Phänomenen. Bulimie-Patienten, hier vor allem Männer, unterdrückten durch eine extreme Sportausübung häufig ihren Brechanfall, nach dem Motto: Erst ganz viel essen, dann ganz viel Sport, um die Kalorien wieder loszuwerden. Anders bei den Magersüchtigen, die sich häufig erst erlauben, Nahrung zu sich zu nehmen, wenn sie mehrere Stunden Sport betrieben haben. "Wer stark untergewichtig ist und dann noch extrem viel Sport macht, der begibt sich in Lebensgefahr", sagt Professor Nutzinger.

Gefährlich ist auch die "Anorexia Athletica", ein gestörtes Essverhalten bei Leistungssportlern. Sie wollen ihr Gewicht reduzieren, um die Leistung zu steigern, dazu kommt das extreme Training. Durch das Untergewicht werden die reduzierten Muskeln noch mal gestresst, die Knochendichte verringert sich, Leistungsabbau und Verletzungsgefahr sind die Folge.

Extrem-Training im Leistungssport - genau hier wird das Thema für Sportmediziner Braumann wieder interessant. Wann genau wird aus einer eigentlich sinnvollen Belastung ein Übertraining? Und welche Zusammenhänge bestehen zu einem Burn-out-Syndrom? Das hat die Sportmedizin bisher noch nicht herausgefunden - Braumann spricht von einer "Black Box" in der Diagnostik.

Wichtig für ihn sind dabei nicht nur die Olympioniken, sondern auch die vielen Millionen Freizeitsportler, die nur allzu häufig ohne Rücksicht auf den eigenen Körper viel zu hart trainieren. Eine gute Beratung zur rechten Zeit würde ihnen helfen - und vielleicht auch dafür sorgen, dass eine "Sportsucht" erst gar nicht entstehen kann.