Psychiatrie: Der Übergang vom Tick zur Zwangsstörung ist fliessend. Einer ordnet alles auf Linien, der andere sitzt immer am gleichen Platz. Fast jeder pflegt kleine Verschrobenheiten. Wenn sie aber zu Ritualen werden, die den Alltag bestimmen, ist professionelle Hilfe nötig.

Fußballstar David Beckham kann es nicht ertragen, wenn eine ungerade Anzahl von Getränkedosen im Kühlschrank steht. Außerdem, sagte er in einem Interview, müsse bei ihm immer alles in einer geraden Linien liegen - diese Ordnung sei geradezu zwanghaft. Stürmer Wayne Rooney wiederum braucht zum Einschlafen das Geräusch eines Staubsaugers oder Haartrockners, berichtete kürzlich eine englische Zeitung. Und Melvin Udall, der von Jack Nicholson gespielte Filmheld in der Hollywood-Produktion "Besser geht's nicht", hat noch ganz andere Probleme: Er kann sich nicht überwinden, die Zwischenräume von Gehwegplatten zu betreten oder die Hauspuschen in einem schiefen Winkel vor das Bett zu stellen.

Auch wenn solche Zwangshandlungen noch so absonderlich erscheinen: Mit ihren Ordnungsfimmeln sind sie nicht allein. Fast jeder hat kleine Marotten oder Ticks. "Bei den Marotten gibt es praktisch nichts, was es nicht gibt", sagt Christa Roth-Sackenheim, Vorsitzende des Berufsverbands der deutschen Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie in Neuss. "Da gibt es Leute, die nur Hemden einer einzigen Marke anziehen oder ausschließlich schwarze Socken tragen." Eine handfeste Neurose, die therapeutisch behandelt werden sollte, ist das deshalb noch nicht.

Neben den sogenannten Putz- und Waschzwängen unterscheidet die Psychiatrie zwischen Kontrollzwängen und Zwangsgedanken, erläutert Frank Meyer, Leitender Psychologe an der Christoph-Dornier-Klinik für Psychotherapie in Münster. "Da stehen die Betroffenen eine halbe Stunde vor dem Herd und prüfen, ob der auch wirklich abgeschaltet ist." Das sei sicher behandlungsbedürftig. In schwacher Form seien Zwänge aber normal - und bei fast jedem in bestimmter Form vorhanden. "Mit den paarweisen Cola-Dosen kann man zum Beispiel gut leben", sagt Roth-Sackenheim. Denn menschlich und erklärbar seien die an sich unnützen Handlungen sehr wohl.

"Zwänge haben mit Angstabwehr zu tun", erläutert Tom Diesbrock, Psychologe und Psychotherapeut in Hamburg. Wenn ich meine Bleistifte in gerade Linien lege, bändige ich zwar ein Chaos, das gar nicht droht. Trotzdem beruhigt mich diese Symmetrie."

Auch Frank Meyer ist der Ansicht, dass die Ordnungsrituale helfen, ein Gefühl der Kontrolle über Unsicherheit im Alltag zu erlangen. "Manche setzen sich halt immer auf denselben Platz im Fußballstadion, weil sie Angst haben, dass die Mannschaft sonst verliert." Auch das sei noch im Bereich des Liebenswert-Verschrobenen anzusiedeln.

"Wenn mein Tagesablauf durch die Zwänge immer wieder eingeschränkt ist, weil die Marotten immer größeren Raum einnehmen, ist es höchste Zeit, sich Gedanken zu machen", sagt Tom Diesbrock. Fünfmal am Tag die Hände zu waschen sei normal, fügt er hinzu. "Bei 100-mal leidet aber ganz sicher mein normaler Tagesablauf." Und auch wenn immer wieder Beziehungen an den Marotten scheitern, sollten Betroffene die professionelle Hilfe eines Therapeuten suchen.

"Oft ist das ganze Umfeld stark in Mitleidenschaft gezogen", erläutert Christa Roth-Sackenheim. "Und auch wenn ich wegen meiner Ordnungsrituale ständig zu spät zur Arbeit komme oder Verabredungen nicht einhalte, weil ich Angst davor habe, dass das Bügeleisen schief steht, sollte ich zum Arzt gehen." Denn ob Ritual, Eigenart, Marotte, Tick oder eine Zwangsstörung: Die Übergänge sind fließend.

"Ungefährlich ist es, solange ich das Gefühl habe, dass es nur eine Angewohnheit ist. Die sollte ich mit ein bisschen starkem Willen überwinden können", erläutert Roth-Sackenheim. Dabei könne es zum Beispiel helfen, sich immer wieder zu sagen, dass die zwanghafte Handlung sinnlos ist - sei es nun die wiederholte Kontrolle der Herdplatte oder das Geraderücken der Stifte auf dem Schreibtisch.

Frank Meyer rät, den Zwang der Rituale gezielt zu durchbrechen. "Schauen Sie doch einfach mal, was passiert, wenn Sie sich von dem Ritual lösen." Zwar fühle sich das für die Betroffenen "nicht richtig" an, und sogleich stelle sich eine Angst vor Kontrollverlust ein. "Aber Sie werden staunen: Es passiert nämlich gar nichts Schlimmes. Und Sie lernen wieder, Risiken einzugehen."