Archäologische Funde aus einer Abfallgrube zeigen, dass der Reformator kein Kind armer Leute war.

Halle/Saale. Verhärmte Gesichter mit einem fast leeren Blick, zwei alte Menschen, die von einem entbehrungsreichen Leben in bitterer Armut gezeichnet zu sein scheinen. So hat Lucas Cranach die greisen Eltern Martin Luthers 1527 porträtiert. In seinen Tischreden sagte der Reformator: "Mein Vater ist in seinen jungen Jahren ein armer Häuer (Bergmann) gewesen, die Mutter hat all ihr Holz auf dem Rücken heimgetragen. Also haben sie uns erzogen. Sie haben harte Mühsal ausgestanden, wie sie die Welt heute nicht mehr ertragen wollte." Kein Wunder also, dass die Nachwelt stets davon ausging, er sei das Kind armer Leute gewesen.

Aber stimmt das tatsächlich? Schon seit einiger Zeit haben Reformationshistoriker Zweifel an dieser Darstellung, doch erst jetzt gibt es handfeste Beweise: Heute wird im Museum für Vorgeschichte in Halle eine halbjährige Ausstellung eröffnet, die mit der Armutslegende gründlich aufräumt. "Von Armut findet sich bei Luther keine Spur", sagt der Archäologe Björn Schlenker, der das Elternhaus des Reformators in dem sachsen-anhaltinischen Städtchen Mansfeld von 2003 an im Rahmen einer groß angelegten Grabung mit nahezu kriminalistischem Gespür untersucht hat. Die Befunde, auf die er und seine Kollegen vom Hallenser Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie stießen, haben in den letzten Jahren wiederholt Furore gemacht, die Ausstellung "Fundsache Luther" zeigt sie erstmals öffentlich.

Björn Schlenker staunte nicht schlecht, als er im Herbst 2003 im Müll des lutherschen Elternhauses auf Dinge stieß, die er niemals dort vermutet hätte. Die Archäologen fanden nicht nur Murmeln und Teile einer Armbrust - für die Kinder armer Leute unerschwingliches Spielzeug -, sondern auch die Überreste von bemerkenswerten Lebensmitteln: Der Speisezettel der Lutherfamilie umfasste demnach Rind und junges Schweinefleisch, Süß- und Salzwasserfisch, aber auch Leckerbissen wie Singvögel und exotische Früchte wie Feigen. "Arme Leute hätten sich solche Speisen niemals leisten können. Da wir aber zweifelsfrei davon ausgehen können, dass es sich um Abfälle von Luthers Familie handelt, kann man ihr einen recht soliden Wohlstand unterstellen", sagt Björn Schlenker, der auch eine ganze Reihe weiterer Belege für diese Annahme gefunden hat. Bisher kannte man nur das eine bescheidene Haus der Familie, doch jetzt stellten die Bauforscher aus Halle fest, dass das Grundstück viel größer war. Es umfasste ein Gehöft mit einer Straßenfront von etwa 25 Metern und einer Tiefe von mindestens 70 bis 80 Metern. Auf dem Gelände stand nicht nur das eigentliche Wohnhaus, sondern auch weitere Gebäude wie Stallungen und Schuppen. Ein Historiker des Landesamts erforschte darauf hin die archivarischen Quellen und stieß dabei auf bislang völlig unbekannte Dokumente. Daraus geht Erstaunliches hervor: Hans Luder (wie sich Luthers Vater nannte) war nicht nur Pächter der Grafen und damit Bergwerks- und Hüttenbetreiber, sondern verfügte auch über ansehnliche 80 Hektar Landbesitz. Außerdem verlieh er Geld, sogar an das Grafenhaus - gegen einen Zins von etwa fünf Prozent. Nicht zuletzt war er als Schauherr des Grafen Inhaber eines äußerst lukrativen Jobs: Er kontrollierte, ob die anderen Hüttenmeister ihre Pflichtanteile regulär abführten, bekam dafür ein Jahressalär von 80 Gulden und war außerdem auch noch prozentual an verhängten Strafgeldern beteiligt.

Ein "armer Häuer" war Luthers Vater also auf gar keinen Fall. Weitere Forschungen ergaben, dass die Lutherfamilie seit Langem zur ländlichen Oberschicht zählte. "Als armer Bergmann hätte Hans Luder auch Margarethe Lindemann niemals heiraten können, sie gehörte nämlich dem Eisenacher Patriziat an", sagt Schlenker und macht auf einen bemerkenswerten Zusammenhang aufmerksam: Antonius Lindemann, ein Onkel von Margarethe, war der höchste Bergbeamte in der Grafschaft Mansfeld. Der Gedanke liegt also nahe, dass Antonius seinen Verwandten Hans mit Insiderwissen versorgte, sodass dieser sich 1484, als Martin Luther noch Säugling war, um drei vakante Hüttenfeuer in Mansfeld bewerben konnte.

Vor diesem Hintergrund wundert es nicht mehr, dass die Hallenser Archäologen 2003 auch einen etwa 300 Münzen umfassenden Silberschatz im Abfall des Hauses entdeckten, der nun zu den spektakulärsten Exponaten der Ausstellung gehört.

Diese und andere Wertgegenstände wie Spielzeuge, Kleidungsteile und eine Heiligenfigur gelangten neben den Speiseresten nicht zufällig in den Hausmüll: Wahrscheinlich hatte man all diese Dinge aus Angst vor der Pest entsorgt. Als der Schwarze Tod 1505 in Mansfeld grassierte, waren ihm auch zwei Brüder Luthers zum Opfer gefallen. Aus Furcht vor Ansteckung verbrannte man alle Gegenstände, mit denen die Verstorbenen in Berührung gekommen waren, und warf sie in die Abfallgrube. Die Asche hatte dafür gesorgt, dass die nur unvollständig verbrannten Objekte jahrhundertelang konserviert wurden.

Die Ausstellung zeigt auch zahlreiche, oft wertvolle Objekte, die bei Grabungen in Wittenberg aus dem häuslichen Umfeld Luthers geborgen wurden, sowie Gegenstände aus zahlreichen Museen und Sammlungen, die dem Reformator zugeschrieben werden: ein goldener Ring, bei dem es sich um Katharina von Boras Ehering handeln könnte, ein kostbares Glas syrischen Ursprungs, luxuriöse Ofenkacheln zum Beispiel. Bis zu 50 Personen mussten in Wittenberg in Luthers Haushalt beköstigt werden. Die Tafel, an der viel geredet, aber auch üppig gespeist wurde, erinnerte durchaus an ein höfisches Ambiente.

Dass der Reformator, der immerhin zu den prominentesten Persönlichkeiten seiner Zeit gehörte, in der kursächsischen Residenz an gediegenen Wohlstand gewöhnt war, ist allgemein bekannt. Trotzdem erstaunt es, dass sich im Wittenberger Hausmüll u. a. die Reste kostbarer venezianischer Gläser fanden und dass er sich denselben wertvollen Kachelofen leisten konnte wie sein Widersacher Kardinal Albrecht.

Bleibt die Frage, warum Luther behauptet hat, dass er einer bitterarmen Familie entstammte. Tat er es vielleicht, um mit seiner Kritik an den Ausschweifungen des Papstes und des römischen Klerus glaubwürdiger zu erscheinen? "Als Archäologen interpretieren wir diese Dinge nicht. Wir zeigen nur die Funde. Und Funde sind unbestechlich", sagt Ausstellungskurator Björn Schlenker, der den großen Reformator aber dann doch noch ein wenig in Schutz nimmt. "Alle Äußerungen zu seiner ärmlichen Kindheit stammen aus Luthers Tischreden. Diese wurden aber erst 20 Jahre nach seinem Tod von seinem letzten Famulus veröffentlicht", sagt der Ausstellungsmacher und fügt hinzu: "Ob er das tatsächlich alles so gesagt hat, weiß Gott allein."