Der Archäologe Klaus Schmidt stieß auf ein gewaltiges Bauwerk, das Jäger und Sammler schon vor 11 000 Jahren errichteten.

Ein Taxi bringt den Forscher in das abgelegene Tal im Südosten der Türkei. Der Berliner Archäologe Klaus Schmidt marschiert auf eine Anhöhe zu, mit einem Hügel, der in mehrere Kuppen und Senken gegliedert ist: den Göbekli Tepe ("gebauchter Berg"). Dort soll es Feuerstein geben, hat ein Dorfbewohner erzählt. Die Erhebung sieht künstlich aus. Am Fuß sieht Schmidt Tausende Feuersteinwerkzeuge und Abschläge, die im Licht aufblitzen. Sie stammen aus der Jungsteinzeit. Weiter oben entdeckt er inmitten eines Gewirrs aufgetürmter Steine das T-förmige Kopfstück einer Stele - und weitere Bruchstücke solcher Pfeiler, mit prächtigen Tierfresken verziert.

An diesem Abend im Oktober 1994 stößt Schmidt auf die Überreste gewaltiger Bauwerke aus der Steinzeit: die ersten Tempel der Menschheit. Er bemerkt an den Pfeilern in Stein gehauene zähnefletschende Raubtiere, Keiler, Schlangen und Vögel. Auf einer Stele prangt das Relief eines Fuchses in Lebensgröße. Unmittelbar davor ist in den Boden eine Vertiefung eingelassen - vermutlich eine Opferschale. Bei den Ausgrabungen zeigt sich: Herd- und Feuerstellen fehlen. Zudem sehen frühe Wohnhäuser aus der Jungsteinzeit anders aus. Auf dem Hügel gab es demnach wohl keine dörfliche Siedlung.

Um was aber handelte es sich? Dass eine so gewaltige Anlage nur zur Demonstration von Macht errichtet wurde, hält Schmidt für unwahrscheinlich. Eher könnte sie religiösen Zeremonien gedient haben. An den Seiten einzelner Pfeiler entdecken die Archäologen Darstellungen von Armen und Händen. Der Querbalken der Stele symbolisiert den Kopf. Die Steinpfeiler sind vermutlich stilisierte menschenähnliche Wesen. Ob sie aber Ahnen, Dämonen oder Götter verkörpern, kann niemand beantworten.

Viele der mehr als 40 bisher ausgegrabenen Pfeiler sind in Kreisen angeordnet. Noch ist ungewiss, ob sie einst mit Mauern verbunden und von einem Dach gekrönt waren - oder ob es sich um gigantische Stelenfelder handelt. In einigen Fundstücken sehen die Archäologen Überreste von Lampen: Womöglich waren Teile der Bauwerke von Mauern umschlossen, überdacht und mussten beleuchtet werden, oder sie wurden nachts benutzt.

Schmidt lässt das Alter der Pfeiler ermitteln. Dieser mit Abstand früheste Großsteinbau der Menschheit ist fast 11 000 Jahre alt. Damals aber waren die Menschen noch nicht auf Dauer sesshaft. Wie also konnten Jäger und Sammler eine derart gigantische Architektur auftürmen? Rätselhaft ist, wie die Steinzeitmenschen die tonnenschweren Felsbrocken ohne Zugtiere herbeischleppten und zu gewaltigen Ensembles gruppierten. Ein sieben Meter langer Pfeiler mit einer Kopfbreite von drei Metern ist das vielleicht spektakulärste Relikt. Er ist 50 Tonnen schwer. Schmidt vermutet, dass Hunderte Helfer nötig waren, um solche Objekte zu transportieren. Die damalige Gesellschaft muss demnach fähig gewesen sein, gewaltige Arbeitsbrigaden zu koordinieren und diese auch zu sättigen.

Doch was spielte sich einst in den geheimnisvollen Bauwerken auf dem Hügel ab? Auf einer Steinsäule hält ein mächtiges Raubtier - ein Bär oder Löwe - einen menschlichen Kopf zwischen den Pranken. An weiteren Stellen sind Vögel oder andere Tiere abgebildet, die auch Menschenköpfe haben. Menschliche Schädel wurden in der Steinzeit häufig vom Skelett abgetrennt und gesondert aufbewahrt. Schmidt vermutet, dass es sich um einen Tempel für einen steinzeitlichen Totenkult handelte. Womöglich brachten in der Vorstellung der Steinzeitjäger Boten aus der Tierwelt die menschliche Seele im abgetrennten Kopf in das Totenreich hinüber.

In eine Felsplatte ist das Relief eines Kranichs gemeißelt. Der Vogel scheint zu tanzen. Seine Beine sind jedoch viel zu muskulös - und am Laufgelenk wie ein menschliches Bein angewinkelt. Es könnte sich um einen als Vogel verkleideten Tänzer handeln. Womöglich versuchten sich Schamanen durch ekstatisches Tanzen in Kostümen rituell in Tiere zu verwandeln - und so mithilfe von Kräften aus einer anderen Welt Krankheiten zu heilen. Oder Macht über den Tod zu erlangen. Ob auf dem Hügel nur Geister und Dämonen beschworen oder bereits Götter angebetet wurden, kann Schmidt nicht sagen. Doch er ist sich sicher, dass Göbekli Tepe eine Art Tempel war. Die Entdeckung der Anlage brachte den Berliner Archäologen auf eine revolutionäre These. Eine Theorie besagt, dass Klimaveränderungen vor mehr als 10 000 Jahren die Neolithische Revolution ausgelöst haben: Da die Nahrung knapp wurde, hätten die Menschen Ackerbau und Viehzucht ersonnen. So seien sie sesshaft geworden und hätten religiöse Zeremonien entwickelt, für die sie Tempel benötigten.

Den Tempel auf dem Göbekli Tepe haben jedoch Jäger und Sammler erbaut. War es also umgekehrt? Haben Riten, Kulte und Religion eine Rolle gespielt, noch ehe Menschen begannen, in Häusern zu leben?

Nach neuen Erkenntnissen waren die Jäger und Sammler von damals schon sesshaft, was ihnen effektive Jagdmethoden ermöglichte. Womöglich war der Tempelbau sogar die Triebkraft für die Entwicklung von Ackerbau und Viehzucht. Denn die Hundertschaften auf dem Göbekli Tepe mussten während der Bauarbeiten ernährt werden. Schmidts These: "Erst war der Tempel, dann die Stadt."

Viele Jahrhunderte lang wurde die Kultstätte genutzt. Doch im 8. Jahrtausend v. Chr. schütteten die Menschen die Anlage mit Geröll zu. Vielleicht bestatteten die steinzeitlichen Jäger und Sammler symbolisch die Vergangenheit, bevor sie sich im Tal als Bauern niederließen. Schmidt gräbt weiter. Vor einiger Zeit hat er eingemeißelte Botschaften entdeckt - darunter ein aufrechtes und ein liegendes "H-förmiges" Zeichen sowie ein Kreissymbol und kleine Tierbildchen. Womöglich verfügten die Steinzeitjäger bereits über eine hieroglyphenartige Bilderschrift.

Kult und Religion hatten sich in jener Steinzeitepoche also ganz offensichtlich zu einer gewaltigen Kraft gebündelt, die die Entwicklung der Menschheit vorantrieb.