Molekülstrukturen existieren in zwei Formen - als Bild und als Spiegelbild. Jetzt gelang der Nachweis, warum die Natur mal die eine, mal die andere Form bevorzugt.

Rechtsdrehend oder lieber linksdrehend? Der Blick ins Kühlregal zeigt, dass Joghurt vorzugsweise mit rechtsdrehender Milchsäure angeboten wird. Denn diese kann der menschliche Körper besser abbauen. Dabei ist die Milchsäure nur ein Beispiel für Stoffe, die in zwei räumlichen Varianten vorkommen - als Bild und als Spiegelbild. "Das wird Chiralität genannt, Händigkeit, weil die Raumstrukturen sich wie linke und rechte Hand zueinander verhalten", erläutert der Hamburger Uni-Professor Christian Betzel, der dieses Phänomen untersucht. Mit dem Physik-Professor Michael Rübhausen ist er der Lösung eines der größten Rätsel der Natur näher gekommen.

In der Natur existieren viele Moleküle in zwei Raumformen. Aminosäuren oder Zucker, Enzyme oder Rezeptoren. Doch die beiden Formen kommen nicht gleich häufig vor. Vielmehr hat die Natur eine ausgesprochene Vorliebe für jeweils eine Form. So gibt es nur "linkshändige" Aminosäuren und nur "rechtshändige" Zucker und Nukleinsäuren. Aber warum bevorzugt die Natur die eine oder andere Form? Wie kam es zu dieser einseitigen Händigkeit, der Homochiralität, die für die Entstehung von Leben offenbar unverzichtbar ist? "War die Auswahl rechts- oder linkshändiger molekularer Strukturen nicht rein zufällig, dann muss die Chiralität in einem frühen Stadium der Entwicklung des Lebens auf diesem Planeten beeinflusst worden sein", sagt Betzel. "Rechtshändige" Nukleinsäuren (kurz DNA oder RNA) und "linkshändige" Aminosäuren müssen einen evolutionären Vorteil gehabt haben. Aber welchen? Darüber rätseln Wissenschaftler seit mehr als 150 Jahren, seit Louis Pasteur ein Salz der Weinsäure in Bild und Spiegelbild auftrennte.

"Unsere Versuche zeigen, dass die rechtsdrehende Ribonucleinsäure, RNA, die auch in der Natur bevorzugt gebildet wird, nicht so empfindlich auf Energiezufuhr reagiert wie die linksdrehende RNA, also die Kunstvariante", fasst Betzel die Ergebnisse zusammen, die dieser Tage in der US-Fachzeitschrift "RNA" veröffentlicht werden. Obwohl die rechtsdrehende oder D-RNA und die linksdrehende oder L-RNA in Summenformel und physikalischen Eigenschaften wie Schmelz- und Siedepunkt identisch sind, reagieren die Varianten auch physikalisch und nicht nur biologisch unterschiedlich.

Das hatten Theoretiker immer vorausgesagt. Doch erst den Hamburger Wissenschaftlern gelang jetzt, woran in den vergangenen zehn Jahren viele Forscher gescheitert sind: Sie konnten diese Prognose der Theoretiker in einem Experiment beweisen. Die Hamburger schafften somit einen sensationellen Durchbruch auf diesem Gebiet der Chemie, der Evolutionsbiologen begeistern wird.

Die herausragenden Forschungsergebnisse gelangen nur, "weil es in Hamburg weltweit einzigartige Forschungsbedingungen auf diesem Feld gibt", betont Betzel. Der Versuchsaufbau ist komplex, die Geräte von exzellenter Qualität.

So steht in der Arbeitsgruppe Rübhausen im Institut für Angewandte Physik ein weltweit einzigartiges Spektrometer, das exzellente Spektralanalysen von Molekülen in Flüssigkeiten erlaubt. Erst damit erschloss sich den Arbeitsgruppen Betzel und Rübhausen dieser Mikrokosmos. Die Wissenschaftler füllten die hochreinen Moleküle, getrennt nach L- und D-Form, in spezielle Analysebehälter. Diese wurden mit dem Spektrometer, das in einem etwa 30 Quadratmeter großen Reinraum in der Angewandten Physik steht, untersucht. "Dann haben wir UV-Licht unterschiedlicher Energie durch diese Proben geschickt und über Schwingungsanregungen der Atome deren individuelles Absorptionsverhalten ermittelt", schildert Rübhausen in groben Zügen den aufwendigen Versuchsablauf. Betzel erklärt: "Das Ergebnis ließ keinen Zweifel zu: Die D-Form ist stabiler, sie lässt sich, salopp formuliert, nicht so schnell aus der Ruhe bringen. Der Unterschied ist zwar klein, aber in der Summe offenbar entscheidend. Wenn man bedenkt, dass die Bildung von organischen Verbindungen, die Entstehung von Leben auf dieser Erde in einer Zeit stattgefunden hat, in der extreme Verhältnisse herrschten, dann scheint es logisch, dass die Evolution auf die Moleküle setzte, die stabiler waren als andere."

Die hochreinen Moleküle erhielten die Hamburger Forscher von Berliner Kollegen. Sie haben eine Technologie entwickelt, mit der man L- oder D-Form herstellen kann. In dieser Spiegelmer-Technologie sei Deutschland führend, sagt Betzel, der längere Zeit in Berlin geforscht hat. So stellt die Noxxon Pharma beispielweise Kunst-Varianten der RNA her, "die getestet werden, um zum Beispiel Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, rheumatoide Arthritis oder Augenerkrankungen zu heilen", so Betzel. Dass Bild und Spiegelbild manchmal unterschiedliche pharmakologische Wirkungen haben, ist länger bekannt. So beeinflusst bei einigen Betablockern die eine Variante das Herz, die andere Variante die Zellmembranen des Auges. Die Hamburger Wissenschaftler wollen jetzt Aminosäuren analysieren und ihren Versuch so verbessern, dass er am Freien-Elektronen-Laser FLASH bei DESY aufgebaut werden kann.

Mit der 260 Meter langen Anlage können die Wissenschaftler Prozesse wie die Bildung von chemischen Bindungen direkt beobachten. "Das wird uns völlig neue Erkenntnisse bescheren", dessen ist sich Betzel sicher. Einige davon werden sicherlich auch für die Entwicklung von Medikamenten interessant sein.