Vornamen können Vorurteile auslösen, Seismografen des gesellschaftlichen Wandels sein - und sagen zugleich viel über Denken und Vorlieben der Eltern.

Hamburg. "Ein guter Name ist die schönste Mitgift", weiß das Sprichwort. Es meint den unbefleckten Familiennamen. Jetzt aber wird auch der Vorname immer wichtiger: Häufiger als bisher wollen Eltern damit den Status signalisieren, den sie ihren Kindern wünschen - oft ohne ihn selbst zu besitzen.

"Ein Vorname sagt mehr als 1000 Worte", heißt eine Studie der TU Chemnitz. Das gilt nicht nur für den Träger: "Ihr Name erzählt vor allem etwas über Ihr Alter", erklärt Dr. Udo Rudolph (44), Professor für Allgemeine und Biologische Psychologie an der sächsischen Universität. "Viel mehr verrät er jedoch über Ihre Eltern und deren Vorlieben zu der Zeit, als Sie zur Welt kamen."

Sage mir, wie du heißt, und ich sage dir, wie deine Eltern dachten und wahrscheinlich immer noch denken: Früher gaben Väter und Mütter ihrem Nachwuchs Namen, die den Kindern gute Begleiter durchs Leben sein sollten - heute denken immer mehr Erwachsene dabei auch ans eigene Profil. Deshalb sind Kindernamen, das zeigt auch die jetzt veröffentlichte Liste der Gesellschaft für die deutsche Sprache (GfdS), heute noch viel bessere Seismografen des gesellschaftlichen Wandels als einst. Die wichtigsten Trends:

Individualität: Die immer stärkere Aufsplitterung der Gesellschaft in Einzelpersonen mit Einzelinteressen lässt die Zahl der Vornamen explosionsartig ansteigen. "Vor tausend Jahren hörten achtzig Prozent der Männer auf einen von nur sechs Vornamen wie Johannes, Wilhelm oder Friedrich", sagt Rudolph. Heute gelten auf deutschen Standesämtern 2000 Namen als gebräuchlich und 50 000 als möglich. Das "Große Vornamenlexikon" der Duden-Redaktion schwoll um 2000 auf 8000 Namen an. Die Globalisierung trägt viel dazu bei, der Anteil von Namen aus fremden Kulturkreisen stieg in zehn Jahren von 23 auf 65 Prozent.

Jugendlichkeit: "Namen wie Elfriede, Hannelore, Ingeborg, Lydia, Sieglinde, Uta oder Waltraud klingen alt", sagt Rudolph, "Namen wie Anna, Julia, Katharina, Laura, Lena, Lisa, Sophie oder Sarah dagegen klingen jung. Man muss nur mal zehn Minuten in die ,Lindenstraße', in ,Gute Zeiten, schlechte Zeiten' oder eine andere Vorabendserie hineinschauen, um zu sehen, wie geschickt die Macher moderne Namen aussuchen." Viele Eltern orientieren sich daran. Die laut GfdS häufigsten Namen des Jahres 2006, Marie und Sophie, Leon und Maximilian, sind bei Drehbuchautoren besonders beliebt.

Originalität: Immer mehr Eltern geben ihren Kindern seltene, ausgefallene oder sogar schräge Namen. Vorreiter sind Showstars und berühmte Sportler. Schauspielerin Julia Roberts nannte ihre Zwillinge Phinaeus Walter und Hazel Patricia. "Wie lange wird der Kleine brauchen, um seinen Namen aussprechen zu können, und wird er jemals dessen Bedeutung herausfinden?", fragt die Chemnitzer Namensforscherin Katja Römhild. Weiß Claudia Schiffer, dass ihre Tochter Clementine den Namen einer Waschmittelwerbefigur des Jahres 1968 trägt? Filmstar Gwyneth Paltrow nannte ihre Tochter Apple, weil sie während der Schwangerschaft gern Äpfel aß. In Fußballer David Beckhams Brooklyn und TV-Star Verona Pooths San Diego kehrt die Mode, Kinder nach geografischen Bezeichnungen zu nennen, nach einem Vierteljahrhundert zurück: Anfang der 80er traf es Chelsea Clinton und Paris Hilton.

Religiosität: "Mit der zunehmenden Verweltlichung wurden christliche Vornamen immer weniger beliebt", sagt Rudolph, "heute aber werden etwa Paul oder Johannes wieder häufiger." Jetzt liegen sie auf den Plätzen 6 und 12. In Würzburg schaffte es ein Vater sogar, den einst gar nicht seltenen, aber schon lange nicht mehr gebräuchlichen Zweitnamen "et omnes sancti" ("Und alle Heiligen") eintragen zu lassen. Vor 100 Jahren gingen 69 Prozent der Vornamen auf Christentum oder Bibel zurück, heute sind es nur noch 28 Prozent. Vor allem in der Nazizeit nahmen sie stark ab. Stattdessen stieg "Adolf" auf, der seit 1953 kaum noch vorkommt. "Da viele Modenamen wie Sarah oder David religiösen Ursprungs sind", sagt Robert Böhm, einer der Autoren der Studie, "lassen sie ihren Träger religiöser wirken" - auch wenn das womöglich nicht beabsichtigt ist.

Unverwechselbarkeit: "Immer mehr Eltern haben Sorge, ihre Tochter Anna oder Sophie zu nennen, obwohl ihnen das eigentlich am liebsten wäre", sagt Rudolph. "Sie fürchten aber, dass die Kleine dann in ihrer Klasse mit vier oder fünf anderen Annas oder Sophies zusammensitzt." Darum neigen Eltern immer häufiger zu seltenen Namen oder versuchen sogar, beim Standesamt eigene Kreationen durchzubringen. "Dabei sind solche Befürchtungen völlig grundlos", meint der Professor, "denn selbst die beliebtesten Namen kommen heute nicht annähernd so häufig vor wie die Petras und Stefanies der Sechzigerjahre oder der Kevin der Neunziger."

Ehrgeiz: Immer mehr Eltern offenbaren in den Namen ihrer Kinder ihre Ambitionen. Früher reichte ein ausgeprägtes familiäres Traditionsbewusstsein die Namen von Eltern oder Großeltern an Kinder und Enkel weiter. Heute, da verwandtschaftliche Beziehungen immer unwichtiger werden, orientiert sich die Namensfindung vor allem an errungenem oder erstrebtem Prestige. "Es gibt eindeutige Zusammenhänge zwischen Vornamen und dem sozioökonomischen Status", stellt Rudolph fest, "und ebenso dem Bildungsniveau der Eltern, sodass man allein durch den Vornamen sehr viel über sie erfahren kann." Studien aus Amerika warnen indes davor, dass sich das Prestige von Vornamen sehr rasch verflüchtigen kann. Wenn viele Eltern mit geringem sozioökonomischen Status den gleichen Namen wählen, hat er schon nach zehn Jahren allen Glanz verloren. Auch deshalb rät Rudolph zu zeitlosen Vornamen wie Alexander, Michael, Anna oder Claudia: "Zeitgeistkinder können unter der Schnelllebigkeit des Namensgeschmacks leiden."

Noch nicht abzuschätzen sind die Einflüsse einer Entdeckung der US-Linguistin Amy Perfors auf die Namenswahl: Die Mitarbeiterin der Fakultät für Hirnforschung und Kognitive Wissenschaften am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge konnte beweisen, dass Männernamen mit den Vorderzungenvokalen I, A und E von Frauen eher als sexy bewertet werden als solche mit der Betonung auf O oder U. Bei Frauennamen ist das Ergebnis genau umgekehrt. Spricht sich das herum, sind demnächst wohl ganz viele Daniels und Ortruns zu erwarten.