Dendrochronologie: Die Wissenschaft von den Jahresringen. Aus welchem Jahr stammen alte Hölzer? Forscher können das genau bestimmen, zum Beispiel am Lübecker Holstentor. Hier können sie sogar erkennen, aus welcher Gegend die Handwerker im 15. Jahrhundert kamen.

Holz ist ein ganz besonderer Stoff: als Baustoff seit Jahrtausenden vorhanden, gut zu verarbeiten, widerstandsfähig. Vor allem aber war jeder Balken einmal Teil eines lebendigen Baumes und hat im Wachstum ein charakteristisches Profil gewonnen. In den 60er Jahren hat sich im Hamburger Zentrum für Holzwirtschaft die Dendrochronologie entwickelt, die Wissenschaft von der Lebenszeit der Bäume. Sie ist Baustein der Klimaforschung, sie ist aber längst auch eine Stütze der Archäologie, der Bau- und Kunstgeschichte. Wie diese Naturwissenschaft hilft, Geschichte lebendig werden zu lassen, zeigt die Arbeit am Lübecker Holstentor.

Nach Aktenlage ist alles klar: Geplant wurde das Holstentor 1464 bis 1467, die Fundamente des Nordturms stammen von 1469, die des Südturms von 1470. Die Fertigstellung des Holstentores wird mit 1477/78 vermerkt. So weit, so gut. Für Experten aber, die es genau wissen wollen, stellen sich Fragen, die über die bekannten Fakten hinausgehen:

Wie haben die Lübecker des 15. Jahrhunderts die trutzige Wehranlage mit ihren markanten Türmen gebaut, in welcher Reihenfolge die ausgeklügelten Dachkonstruktionen auf die Backsteine gesetzt? Warum sind im Südturm alle Hölzer mit halbmondförmigen Abbundzeichen gekennzeichnet, im Nordturm aber mit römischen Ziffern? Und Dr. Annegret Möhlenkamp von der Denkmalpflege will außerdem noch wissen: Stammen die Hölzer eigentlich aus der Original-Bauzeit? Fragen, die mit Hilfe der Hamburger Dendrochronologen beantwortet werden könnten.

Im Herbst 2005 rückten Rouven Boge (27) und Sebastian Braun (29), beide Studenten der Holzwirtschaft im neunten Semester, mit mächtigen Bohr-Gerätschaften an. In Lübeck kennen sie sich aus. "In der Altstadt waren wir schon in fast jeder Straße", sagt Sebastian Braun. Lübecks Altstadt steht nahezu komplett als Welterbe unter dem Schutz der Unesco und ist darum nicht nur ein Dorado für Denkmalpfleger, sondern auch für Holzbiologen.

Boge und Braun wuchten Kisten und Koffer mit Beleuchtung und speziellen Bohrmaschinen bis hoch ins Gebälk - zunächst des Südturms (Stunden später ziehen sie um in den Nordturm) - und wirbeln den Staub von Jahrhunderten auf. In einer Ecke liegt eine in ihrer Form längst nicht mehr gebräuchliche Bierflasche. Hierher kommt nur alle zehn Jahre jemand, sagt der Lübecker Restaurator Erik Yply. "Journalisten sind hier wahrscheinlich noch nie gewesen." Und Dendrochronologen ganz bestimmt noch nicht. Yply und Möhlenkamp begutachten die beeindruckende Winden-Anlage im Südturm.

Boges und Brauns Arbeit ist schweißtreibend und langwierig. Zehnmal setzen sie die Bohrer am Dachwerk des Südturms an, achtmal an den Hölzern im Nordturm. Die Bohrer sind Hohlkörper, mit denen etwa sechs Millimeter dicke, 30 Zentimeter lange Proben aus dem Gebälk entnommen werden. Das Ziel: einerseits Hölzer mit Rinde zu finden, also mit dem letzten vor der Fällung gebildeten Jahresring, andererseits eine möglichst hohe Anzahl von Jahresringen zu erwischen. Von den Bohrlöchern erwächst der Dachkonstruktion keine Gefahr, sagt Braun. Sie schaden weder der Stabilität, noch gewähren sie Schädlingen Zugang.

Mit insgesamt 18 Bohrproben fahren die Studenten schließlich zurück ins Labor nach Bergedorf zur Auswertung. "Sämtliche Proben bestehen aus Eichenholz", heißt es später im Untersuchungsbericht von Diplom-Holzwirtin Sigrid Wrobel (53), die wie kaum jemand sonst die Biologie des historischen Lübecker Holzes kennt. "Beide Dächer sind zeitgleich und stammen aus der Originalbauzeit. Nach dendrochronologischem Ergebnis wurde das Norddach frühestens 1477, das Süddach frühestens 1473 errichtet."

"Ja, und?", mag sich der Laie fragen. Für Dr. Möhlenkamp läuft mit diesen Daten allerdings eine Art bauarchäologischer Film ab. Sie vergleicht sie mit der Jahreszahl, in der das Holstentor fertiggestellt wurde - 1477/78 - und sieht deutliche Anzeichen dafür, daß der Südturm früher fertiggestellt wurde als der Nordturm. Möglicherweise hat sich der Bau der Trutzanlage so abgespielt: Der diffizile Dachaufbau des Südturms könnte zunächst in Teilen ebenerdig gezimmert worden sein, die sorgfältige Kennzeichnung der Hölzer mit halbmondförmigen Abbundzeichen sind Anhaltspunkte für den endgültigen Aufbau. Diese halbmondförmigen Zeichen sind übrigens typisch für Handwerker aus Flandern und Holland, manchmal noch aus dem Rheinland; vielleicht wurde der Holstentor-Südturm also mit Hilfe erfahrener, wandernder Handwerker errichtet (tatsächlich soll das lübsche Tor flandrische Vorbilder haben). Das kann die andere Kennzeichnung mit römischen Ziffern im Nordturm erklären: Das Konstruktionsprinzip war erprobt und den verantwortlichen Handwerkern vertraut.

Sigrid Wrobel hat indessen noch eine Idee: "Möglicherweise hat man ganz bewußt zwei verschiedene Markierungssysteme benutzt, um die bereits zugerichteten Hölzer auf dem Abbundplatz, der wahrscheinlich vor der Baustelle lag, eindeutig den jeweiligen Türmen zuordnen zu können."

Hat jemals jemand behauptet, Naturwissenschaft und Denkmalpflege seien nüchterne Erkenntnisfelder?