Wie kommt es, dass Frauen nicht in den Stimmbruch kommen? Ein Hamburger Mediziner hat zwölf Jahre hohe monotone Frauenstimmen erforscht. Er betrat Neuland und entlarvte Vorurteile.

Wie ergeht es Frauen mit einer hohen Piepsstimme? Wie werden sie in der Gesellschaft angesehen? Warum sprechen sie überhaupt in der Tonlage? Zwölf Jahre forschte der Hamburger Mediziner Niels Graf von Waldersee, dem es um die Heilung kranker Stimmen geht, über hohe monotone Frauenstimmen. Es ist jene schrille Tonlage, die lange als Ausdruck krankhafter Hysterie galt. Ein überraschendes Ergebnis: Frauen auf hohen Stöckelschuhen sprechen oft auch extrem hoch.

Angestoßen haben dieses Forschungsprogramm seine Patientinnen. "Es kamen immer wieder Frauen in die Praxis, denen die Stimme versagte, die sich kein Gehör verschaffen konnten, weil sie eine hohe Stimme behalten haben. Bei ihnen hatte sich der Stimmbruch, in dem sich die weibliche Stimme während der Pubertät um drei Töne vertieft, nicht vollzogen", sagt Dr. Niels Graf von Waldersee und ahmt die Stimmlagen nach, über die er gerade spricht. Kein Zweifel, der Phoniater und Pädaudiologe - das bedeutet Arzt für Stimme sowie Sprach- und Sprechstörungen und kindliche Hörstörungen - ist ein brillanter Stimm-Imitator, er versteht es zu unterhalten. Aber er tut das nicht auf Kosten derer, die unter einer "inkompletten Mutation der weiblichen Stimme" leiden.

Dieser Diagnose wollte Waldersee, Stimmlage Bariton, auf den Grund gehen. "Aber stellen Sie sich vor", berichtet der Mediziner aufrichtig empört, "von 700 wissenschaftlichen Quellen, die sich mit hohen Stimmen auseinandersetzen, widmeten sich lediglich sieben den hohen Frauenstimmen. Wir wissen also bestens Bescheid über die männliche Fistelstimme, aber nichts über die der Frauen. Das ist doch mehr als nur sehr erstaunlich!"

Um dieses Defizit zu beseitigen, trug von Waldersee aus Märchen, Mythen, Opern, Literatur, Werbung oder Kirchenmusik die Geschichten zusammen, die Frauen mit hohen Stimmen erleben. Entstanden ist dabei das 378 Seiten starke Buch "Ach, ich fühl's" mit zahlreichen Abbildungen, das in diesen Tagen in zweiter Auflage erscheint.

Sein Resümee nach zwölf Jahren Forschung: Das Ausbleiben des weiblichen Stimmbruchs wird oftmals durch seelische Belastungen oder Misshandlungen ausgelöst. Eine Feststellung, die von Waldersee schon viel Widerspruch und Ablehnung eingetragen hat. Dabei kenne doch "jeder von uns Frauen mit besonders hohen Stimmen, die von Frauen meist abgelehnt und von Männern gemieden werden, die keine Hilfe erhalten, auch wenn sie darum bitten", sagt Waldersee und fügt fast wütend hinzu: "Nur ein sehr unseriöser Typ von Mann, der schätzt diese Stimmlage, weil er sich ihr überlegen fühlt. Das sind diese Typen, die mit einer künstlichen tief gestellten Bassstimme reden und lachen. Diese Bescheidwisserstimmen, mit der beispielsweise Johnny Cash auftrat."

Physiologisch beruht eine hohe Stimme auf einer großen Spannung der Stimmbänder. "Es ist wie bei einem Streichinstrument oder einer Gitarre: Je mehr die Saite gedehnt wird, umso höher klingt sie", erläutert von Waldersee. Das ist auch der Grund, warum Frauen, die auf Stöckelschuhen gehen, oft auch hohe Stimmlagen haben. "Diese Frauen spannen ihren ganzen Körper so an, dass auch die äußeren Kehlkopfmuskeln und mit ihnen die Stimmbänder unter Spannung stehen." Schon ein flacher Absatz entspanne die Stimmbänder - dies wäre immerhin schon ein Anfang der "Stimmhygiene". Doch, wirft Waldersee ein, wer hat diese Frau wohl "in ihre Schuhe verwiesen"? Ist es gar jemand, der es nicht erträgt, dass eine Frau selbstbestimmt "mit beiden Beinen fest auf dem Boden steht", gar "Bodenständigkeit" in ihrer Stimme trägt? Ist es vielleicht jemand, der ein rückständiges, patriarchales Frauenbild vertritt?

Nicht nur bei diesem Thema sei es bei den Nachforschungen zu der ins Visier genommenen Diagnose spannend geworden. Versteckte Antworten auf Fragen dieser Art gebe sogar die Psychoanalyse, die sich bisher grundsätzlich allerdings nur sehr dürftig mit dem Phänomen Stimme auseinandersetzte.

Ausdrücklich betont Waldersee, dass hohe Frauenstimmen nicht immer ein Grund zur Sorge oder gar für eine Therapie seien. "Eine hohe Stimme, die variationsreich erklingt, kann sehr schön sein und Durchsetzungskraft entfalten." Aber wir sollten schon besser hinhören, wenn uns eine hohe Stimme anspricht. "Frauen, die an der inkompletten Mutation der weiblichen Stimme leiden, haben manchen Grund, nicht offen zu sprechen, denn sie haben schon zu viel gesehen bzw. erlebt", erläutert von Waldersee und ergänzt fast philosophisch: "Aber sie verfügen über einen großen Erfahrungsschatz, von dem ihre Stimme erzählt, den sie aber nicht mit dem Wort zu benennen vermögen. Es ist das Unrecht, das diese sehr hohe Stimmlage benennt. Und nicht die so sprechende Frau, sondern uns selbst sollten wir daraufhin infrage stellen. Das ist eine Chance, den Sinn des alltäglichen Lebens neu zu überdenken. Dann brauchen wir nicht mehr den Großmäulern, die uns ihre Standpunkte mit dem Brustton der Überzeugung aufdrängen, nachzujagen. Wir können gnädiger und demütiger mit der Gabe Selbstbestimmung umgehen."

Die hohe Frauenstimme deutet also nicht nur auf individuelle Leidenswege hin, sondern sie könnte, vermutet Waldersee, auch ein Symptom sein für die bis heute andauernde Ungleichberechtigung der Frau.


"Ach ich fühl's - Gewalt und hohe Stimme", Niels Graf von Waldersee, Kulturverlag Kadmos, 378 S., 24,80 Euro, die zweite Aufl. erscheint am 6. April.