850 000 Deutsche tauchen regelmäßig ab in die Rollenspiele von “World of Warcraft“. Immer mehr vergessen dabei das wirkliche Leben - so wie Tanja.

Loryas steht inmitten ihrer Gefährten. Zauberer, Kämpfer und Druiden. Es ist dunkel in dem Gemäuer aus Holzbalken und nackten Steinen. Loryas, die Schattenpriesterin, ist bewaffnet mit einem leuchtenden Speer. Die Monster nahen und der Kampf. Die Gruppe wartet.

Die Zeit verbrennt.

Wie lange, das merkt Tanja nicht. Tanja, 22 Jahre alt, ist nicht in dem Gemäuer. Sie befindet sich, während Loryas auf den Kampf wartet, in ihrer 42-Quadratmeter großen Eineinhalb- Zimmer-Wohnung im elften Stock eines Wohnhauses in Altona. Es ist eine Nacht im März dieses Jahres. Sie sitzt an ihrem Schreibtisch. Die Tastatur ihres Computers liegt auf ihrem Schoß, die Füße auf einem Schemel. Sie ist draußen und doch drinnen, tief abgetaucht in diese Welt der Abenteuer, Kämpfe und der Gemeinschaft. Der Weg in diese Welt dauert nur eine Minute. Tanja fährt den Computer hoch, klickt das Internet an. Ein weiterer Klick mit der Maus, sie gibt das Passwort ein. Dann ist sie da.

Tanja ist Loryas. Tanja ist real, Loryas ist ihre Figur in "World of Warcraft", einem Online-Computer-Rollenspiel,

kurz WoW. Tanja ist süchtig nach WoW.

Loryas ist schön. Hat dunkles langes Haar und eine schmale Taille. Ihr Teint ist ebenmäßig, ihre Gesichtszüge fein. Sie trägt einen schwarzen Überwurf, über der Hüfte gebunden. Es ist ihr Schutzschild.

Tanja trägt einen weiten Pullover, hat blasse Haut, ist unsportlich. Zu diesem Zeitpunkt spielt sie schon seit 18 Stunden. Isst am Computer, und zur Toilette geht sie nur, wenn das Spiel und ihr Team es erlauben. Dann meldet sie sich "afk" (away from keyboard), macht sie das nicht, werden ihr Punkte abgezogen. Und für die Punkte spielt sie, je mehr Punkte, desto höher der Level. Loryas ist auf dem höchsten Level, 70. Und den erreicht man über die Zeit, die man im Spiel verbringt. Je höher man steigt, desto mehr Fähigkeiten hat die Spielfigur und desto höher ist der soziale Status in der WoW-Welt. Die Zeit, das reale Leben, das draußen an ihr vorüberzieht, existiert für sie nicht. Tanja spielt die Nacht durch bis morgens um sieben, schläft bis abends und schaltet den Computer wieder an. Ihre Zeit verbrennt, Tag für Tag.

Es ist Mitte Juni, abends kurz nach acht. Andreas Richterich, Oberarzt in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychosomatik am Universitätsklinikum Eppendorf, hält einen Vortrag. "Droge Computer?" heißt es auf der ersten Seite seiner PowerPoint-Präsentation. Er steht vorn in braunem Cordanzug an einem Pult. In den Reihen sitzen Eltern, die jedem seiner Sätze betreten folgen. Er sagt "15 Prozent der Patienten in unserer Drogenambulanz für Jugendliche sind online-süchtig" und "WoW ist das Spiel mit dem höchsten Suchtfaktor" oder "Manche Kinder hängen, wenn man ihre Spielzeit zusammenrechnet, schon sechs volle Monate in dem Spiel drin, obwohl es erst zwei Jahre alt ist".

WoW wird in Deutschland von 850 000 Menschen gespielt, weltweit von neun Millionen. Die Software kostet rund 30 Euro, monatlich fallen 13 Euro an, um mitspielen zu dürfen. Richterich spricht vom Reiz, vom Belohnungssystem, davon, "dass man als Spieler nie alles erreicht hat", von der Eindeutigkeit des Spiels, die es in der Realität nicht gibt. Dagegen sei das wahre Leben gerade für Jugendliche in der Pubertät nur schwer zu verstehen. Über das "Real Life" werde abfällig unter den Kindern im Netz gesprochen. Er berichtet von einem Jungen, der ausgerastet ist, als seine Mutter ihm den Computer ausschalten wollte. Ihr Sohn schrie sie an: "Ich habe eineinhalb Jahre auf diese Position hingespielt, und jetzt willst du den Computer ausmachen?" Einige kollabieren in solchen Situationen, andere werden panisch, handgreiflich, haben Entzugserscheinungen. Klare Anzeichen der Sucht.

Die Studien und Hochrechnungen können das Problem noch nicht richtig erfassen. Es gibt Schätzungen, dass in den USA bis zu fünf Prozent der Bevölkerung abhängig sind, das wären 15 Millionen Amerikaner. Die Berliner Caritas gab jüngst an, dass nach eigenen Studien in Deutschland eine Million Menschen betroffen sind. Richterich zählt auf: 60 Prozent der deutschen Haushalte haben Internet, bereits sechs Prozent der Kinder einen eigenen Anschluss im Zimmer. Eine andere Studie unter 5000 befragten Jugendlichen ergab, dass 25 Prozent von ihnen täglich mehr als drei Stunden ihren PC nutzen.

Tendenz schnell steigend.

Nach Richterichs Vortrag ist der Redebedarf groß. Eine Mutter berichtet von ihrem 15-Jährigen, der zwar die Schule noch gut schaffe, aber sonst nichts mehr. Ein Pärchen hat einen Sohn, der seine Lehre abgebrochen hat und nur im Netz lebt. Kein Geld verdient, ihnen auf der Tasche liegt. "Sollen wir ihn fallen lassen?", fragen sie. Richterich antwortet: "Manchmal brauchen wir Liebe, wenn wir sie am wenigsten verdienen." Das meint er ernst, und die Eltern betrachten ihn wie einen Heilsbringer, wie einen, der ihr Kind retten könnte. Die Stimmung ist gedrückt, die Luft schlecht. Also, nicht fallen lassen. Kämpfen sollen die Eltern gegen virtuelle Welten wie Second Life, Spiele, Chatrooms und unendliche Datenmengen. Die Kinder rausholen. Aus der digitalen Welt, die immer stärker, beliebter, komplizierter wird, für Eltern nur schwer zu verstehen ist.

Tanja hat ihr Biologiestudium abgebrochen, schläft kaum noch, hat mehrere Kilo zugenommen, geht nicht mehr raus, hat Panik vor dem Nachbarn. Er wollte, dass sie leiser ist. Sie hat die Tür nicht aufgemacht, er ist ausgeflippt, hat die Tür eingetreten, sie bedroht. Die Angst lässt sie seither nicht mehr los, und das Spiel ist ihre Flucht vor der Realität. Den Überfall des Nachbarn hat sie nicht verarbeitet. Sie hängt drin, jeden Tag, in dieser besseren Welt. Trifft sich mit ihrer Gemeinschaft, mit ihren Freunden im Netz. Endlich Freunde, die wie sie in den Schlachten kämpfen, die sie verstehen. Nicht wie damals in dem kleinen Ort bei Winsen, wo sie aufgewachsen ist. Da hatte sie niemanden, keine Freunde, nur den Fernseher und später ihren ersten Computer. Ihre Eltern haben eine Metzergerei und sie eben nicht verstanden, wie sie später sagt. "Meine Mutter hat damals schon genervt. Ich würde zu viel Zeit vor dem Fernseher verbringen, aber warum das so ist, hat sie sich nicht gefragt." Der Fernseher war ihr einziger Freund.

Jetzt hat sie neue Freunde, mit denen sie sogar reden kann. "Team Speak" nennt sich das, über Kopfhörer und Mikro kann man quatschen, allein ist man nie. Loryas ist nicht allein. Tanja immer einsamer. Eine ihrer wenigen echten Freundinnen sagt zu ihr, "du hast dich verändert" und "du kannst aufhören". Nichts wirkt. Erst als sie sie an eine Nacht erinnert, in der sie zusammen ins Schwimmbad eingebrochen sind, und Tanja tatsächlich antwortet: "Die Zeiten sind jetzt anders, ich habe mich verändert", denkt sie nach. Dieser Satz arbeitet in ihr.

Zwei Tage später, es ist Ende März, bittet sie ihren Freund Stefan um Hilfe. "Ich kann nicht mehr", sagt sie zu Stefan, den sie auch über WoW kennengelernt hat. Sie waren in einem Team. Sie sagt: "Ich möchte wieder raus, die alte Tanja sein."

Vor ein paar Wochen. Der Treffpunkt ist ein Cafe an der Europa-Passage. Tanja ist nicht wieder die Alte. Sie trägt wieder einen weiten Pullover, Jeans und eine Hello-Kitty-Umhänge-Tasche. Sie sagt: "Ich bin noch dabei, mich zu stabilisieren." Sie ist etwas unruhig, die vielen Menschen irritieren sie. Sie schlägt vor, sich auf ein Sofa in der hintersten Ecke des Cafes zu setzen. Drei Monate Therapie im UKE liegen hinter ihr. Dort wurden ihre Ängste und Depressionen, ihre eingeschränkte Wahrnehmung und eine dissoziative Störung behandelt. Phänomene, die zur Sucht geführt haben oder die durch die Sucht erst aufgetreten sind? "Das konnte man mir nicht genau sagen", antwortet Tanja, "das eine kann das andere bedingen." Sie fühlt sich besser. Sie ist mit dem Bus in die Stadt gefahren, das hätte sie sich früher nicht getraut. Aber vom Computer ist sie noch nicht weg, spielt zwei-, dreimal in der Woche WoW, "aber kontrolliert, nur für ein paar Stunden". Sie möchte die Rollenspiele, behalten können. "Nur als Hobby", betont sie. Sie zeigt ein Skizzenbuch. Sie zeichnet jetzt, malt Mangas, japanische Comicfiguren, die sie selbst entwirft. Daraus möchte sie etwas machen, eine kreative Ausbildung in der Werbung. Sie war schon beim Arbeitsamt. Tanja schaut auf ihre Armbanduhr. Sie hat nicht mehr so viel Zeit. Denn gleich will sie sich mit Stefan treffen und dann mit ihm über die Mönckebergstraße schlendern. Zum ersten Mal, denn die beiden waren noch nie zusammen in der Innenstadt. In der echten.