Die Suche nach dem Higgs-Boson geht in die entscheidende Phase. Es ist das letzte noch unbewiesene Partikel im Standardmodell der Teilchenphysik.

Genf/Hamburg. Ein Bauteil fehlt noch. Jahrzehntelang suchen sie schon danach, viele Tausend Physiker, die experimentieren und sich den Kopf zermartern, wo es stecken könnte: das geheimnisvolle Higgs-Boson. Jenes auch als "Gottesteilchen" bekannte Partikel, das allen anderen Elementarteilchen ihre Masse verleihen soll. Die Tragweite dieser Theorie wird klar, wenn man sich vor Augen führt, dass alle Materie eine Masse hat: Sterne, Planeten, der Mensch - all das existiert dank des Higgs-Bosons. Es ist das Teilchen, das die Welt zusammenhält - wenn die Theorie stimmt.

Insofern sorgt nicht nur unter Fachleuten die Ankündigung für Aufregung, dass Rolf-Dieter Heuer, der Generaldirektor des europäischen Kernforschungszentrums Cern in Genf, am kommenden Dienstag neue Forschungsergebnisse bekannt geben will. Das Cern betreibt mit dem Large Hadron Collider (LHC) den stärksten Teilchenbeschleuniger der Welt. Die ringförmige Anlage hat einen Umfang von fast 27 Kilometern und liegt etwa 100 Meter unter der Erde. In ihren Kammern befinden sich vier Detektoren, darunter "Atlas" und "CMS". Allein Atlas ist 46 Meter lang, 25 Meter hoch und breit und mit einem Gewicht von 7000 Tonnen so schwer wie der Eifelturm. Ist es den Cern-Physikern mit diesen kolossalen Maschinen nun gelungen, das Higgs aufzuspüren? Schon jetzt kursieren Gerüchte, dass eine Entdeckung näher rücke.

Im LHC werden Atomkerne, genauer: Protonen mithilfe elektromagnetischer Felder beschleunigt und gegenläufig losgeschickt. Beinahe mit Lichtgeschwindigkeit rasen so mehrere Protonenstrahlen durch den Tunnel, bis sie an den Detektoren zur Kollision gebracht werden. Damit simulieren die Cern-Forscher Bedingungen, die so vermutlich kurz nach dem Urknall herrschten, als alle Partikel entstanden, die heute bekannt sind. In der künstlich erzeugten Teilchenschar muss sich, so die Theorie, eigentlich auch das Higgs-Boson verbergen - und es sollte anhand seines Zerfalls und der daraus rekonstruierbaren Masse erkennbar sein. Gemessen wird die Masse von Teilchen in Gigaelektronenvolt (GeV).

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Der Vorgänger des LHC, der Teilchenbeschleuniger LEP, konnte bereits genug Beschleunigungsenergie erzeugen, um den Massebereich von 0 bis 114 GeV zu untersuchen. Dort fand sich keine Spur von Higgs. Mit dem erheblich stärkeren LHC konnten die Cern-Forscher auch den Bereich oberhalb von 145 GeV ausschließen. Unklar blieb bis zuletzt, was sich zwischen 114 und 145 GeV verbergen könnte - und in genau diesem Bereich soll der Atlas-Detektor nun das Signal eines Higgs-Partikels mit einer Masse von 125 GeV beobachtet haben. Das alleine wäre noch nicht erstaunlich, hätte nicht unabhängig davon auch der CMS-Detektor ein Higgs mit 125 GeV erfasst, berichteten mehrere Wissenschaftsblogs, etwa "Nature News Blog", "viXra log" und "Not Even Wrong".

Physiker bezeichnen das statistische Maß für die Abweichung von einer Norm als Standardabweichung, die sie in Sigma angeben. Im Atlas-Experiment zeigte sich den Berichten zufolge eine Abweichung von 3,5 Sigma, im CMS-Experiment lag sie bei 2,5 Sigma. Das sind bedeutende Abweichungen, doch erst bei 5,0 Sigma liegt die Wahrscheinlichkeit, dass es sich nicht um einen Zufall, sondern eine Entdeckung handelt, bei 99,999 Prozent. Dennoch: Das Gerücht, dass sich bei beiden Experimenten im gleichen Massebereich Signale zeigten, stimmt Experten optimistisch: "Die Experimente haben offenbar eine neue Qualität erreicht. Es wird sehr spannend sein, zu sehen, was geschieht, wenn die Daten kombiniert werden", sagt Prof. Bernd Kniehl vom II. Institut für Theoretische Physik an der Uni Hamburg. Sein Spezialgebiet sind Vorhersagen für Experimente in Teilchenbeschleunigern.

"Die Suche nach dem Higgs-Boson geht in die entscheidende Phase", sagt Prof. Thomas Hebbeker, Leiter des III. Physikalischen Instituts A an der RWTH Aachen. Er ist am CMS-Experiment beteiligt. Hebbeker betont, dass man bei einer Kombination der Messergebnisse sehr genau hinschauen müsse, "weil es gemeinsame systematische Unsicherheiten geben könnte". Für Higgs-Bosonen mit einer Masse von 125 GeV spreche, dass der noch unbestätigten Theorie der Supersymmetrie zufolge Higgs-Bosonen höchstens eine Masse von 135 GeV haben können. "Deshalb ist der Bereich zwischen 135 und 114 GeV besonders spannend."

Cern-Generaldirektor Rolf-Dieter Heuer dämpfte in einer E-Mail an die Cern-Mitarbeiter zu hohe Erwartungen: Die neuen Ergebnisse reichten aus, um "einen bedeutenden Fortschritt auf der Suche nach dem Higgs-Boson zu machen, aber es ist nicht genug, um irgendeine abschließende Aussage über die Existenz oder Nicht-Existenz des Higgs zu treffen."

Apropos: Was ist eigentlich, wenn es das Higgs-Teilchen gar nicht gibt? Das Standardmodell der Teilchenphysik führt den Aufbau der sichtbaren Materie im Wesentlichen auf drei Sorten von Teilchen zurück, zu denen zum Beispiel die Elektronen, Quarks und Photonen gehören. Quarks bilden Protonen - jene Teilchen, mit denen am Cern experimentiert wird. 17 Teilchen sind experimentell nachgewiesen; zuletzt wurde 1995 am Fermilab in Chicago das Top-Quark entdeckt. Es fehlt nur noch das Higgs-Boson.

Mathematische Gleichungen können durchweg schlüssig erklären, welche Kräfte zwischen den Teilchen wirken und welches Verhalten sich daraus ergibt - solange man davon ausgeht, dass die Teilchen keine Masse haben. Masselos sind tatsächlich aber nur Lichtteilchen (Photonen) und Gluonen. Um die Masse der anderen zu erklären, ist in dem Modell zwingend das Higgs-Boson nötig. Higgs-Bosonen sind demnach prinzipiell überall, auf der Erde und im Weltraum, und sie verleihen in Wechselwirkung mit anderen Teilchen diesen ihre Masse.

Gibt es die "Gottesteilchen" nicht, bricht zwar nicht die Welt zusammen, aber immerhin das aufwendig konstruierte Standardmodell der Teilchenphysik. Dann müssten Physiker nach völlig neuen Ansätzen suchen.