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Auch wenn man sie nicht immer als wohl proportioniertes „Sixpack“ oder stramme Bizeps sieht: Wir nutzen unsere Muskeln immerfort. Nicht nur beim Gehen, auch beim Sprechen, Atmen oder Kauen. Wenn es gut läuft, bemerken wir sie nicht einmal bei ihrer Arbeit – wenn aber nicht, dann versagen sie uns nach und nach ihren Dienst. Rund 800 Muskelerkrankungen gibt es, das schätzt die Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke (DGM).

Wie diese Krankheiten entstehen, welche neuen Therapieansätze es gibt und wie man mit schleichendem Muskelschwund fertigwird, erklären der Neurologe Professor Reinhard Dengler, stellvertretender Vorsitzender der DGM, und Alessio Lunetto. Der 27-Jährige ist an der bisher unheilbaren Duchenne-Muskeldystrophie erkrankt.

Wieso erkranken Muskeln?

„Die Hauptmasse unseres Körpers besteht aus Muskeln, und sie können erkranken wie jedes andere Organ“, sagt Professor Reinhard Dengler. Er hat sich an der Medizinischen Hochschule Hannover mit dem neuromuskulären Bereich befasst, denn Nerven und Muskeln hängen eng zusammen. „Die motorischen Nervenzellen im Rückenmark steuern unsere Muskeln“, erklärt der Experte.

Genetische Störungen können sowohl die Muskeln selbst als auch die motorischen Nervenzellen schädigen. Beides führt zu ähnlichen Lähmungen sowie zu Muskelschwund. Dengler: „Dies sind Merkmale der meisten Muskelerkrankungen, welche sich häufig schon im Kindesalter bemerkbar machen.“ Muskelschwund, also die Abnahme der Muskelmasse, bezeichnen Mediziner als Muskelatrophie. Der Schwund kann nur einzelne Bereiche oder den gesamten Körper betreffen.

Neben den Erbkrankheiten treten bei Erwachsenen häufiger Muskelentzündungen und sehr selten Tumore auf.

Welche Krankheiten werden häufig festgestellt?

„Unter den rund 800 Erkrankungen gehört die Duchenne-Muskeldystrophie zu den häufigen – sie wird bei einem von 5000 Neugeborenen festgestellt und betrifft fast nur Jungen“, sagt Reinhard Dengler. Die Ursache: Das Strukturprotein Dystrophin hat sich im genetischen Bauplan so verändert, dass es seine Aufgabe nicht erfüllt – es kommt zu Muskelschwund oder -schwäche. Die Betroffenen lernen in der Regel spät laufen, verlieren diese Fähigkeit aber später auch wieder.

Wurden Patienten mit dieser Diagnose früher nur selten 20 Jahre alt, so ermöglicht es ihnen der medizinische Fortschritt heute durchaus, das 40. Lebensjahr zu erreichen. „Wir können beispielsweise die Wirbelsäulenverkrümmung operieren, die entsteht, wenn die Muskeln das Skelett nicht mehr richtig aufrechterhalten“, so Dengler. „Dieser Eingriff verbessert die Herz- und Lungenfunktion der Betroffenen wesentlich.“ Da auch die Atemmuskulatur betroffen ist, kann die Atmung der Patienten durch eine Maske unterstützt werden. Auch gefährliche Infekte wie Lungenentzündungen sind heute besser behandelbar.

Entsprechende medizinische Unterstützung benötigen auch Menschen, die an der spinalen Muskelatrophie (SMA) leiden. Bei ihnen versagen laut Professor Dengler die motorischen Nervenzellen ihren Dienst, woraufhin die Muskeln zugrunde gehen. „SMA-Patienten sind allerdings häufig geistig sehr rege und trotz ihrer Behinderung beruflich erfolgreich.“

Auch bei der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS), vielen Menschen durch die sogenannte Ice Bucket Challenge im Internet ein Begriff geworden, sind primär die motorischen Nervenzellen krank.

Gibt es aktuelle medizinische Fortschritte?

„Bei den genetisch bedingten Erkrankungen sehen wir jetzt endlich einen Silberstreifen am Horizont“, sagt Reinhard Dengler. Einer bestimmten Gruppe von Duchenne-Erkrankten macht der als Tablette gereichte Wirkstoff Ataluren Hoffnung: Er kann dafür sorgen, dass das Dystrophin-Protein besser vom defekten Gen abgelesen wird. „Allerdings ist die Studienlage uneinheitlich. Deshalb wurde das Medikament in Europa zugelassen, in den USA ist dies noch nicht der Fall“, so der Experte.

Ein ähnliches Prinzip – also das richtige Ablesen eines genetisch defekten Proteins – verfolgt auch eine neue, Erfolg versprechende Behandlungsmethode mit dem Medikament Nusinersen bei spinaler Muskelatrophie. „Es muss monatlich ins Nervenwasser gespritzt werden. Eine aufwändige Therapie für mehrere 100.000 Euro pro Jahr, die aber so gute Effekte bei ersten Behandlungen an Kleinkindern brachte, dass sie sowohl in Europa als auch in den USA zugelassen ist“, erklärt Reinhard Dengler. Sie werde jetzt in neun spezialisierten Zentren bundesweit angewendet – an den Universitätskliniken Freiburg, München, Essen, Hamburg-Eppendorf, Gießen, Berlin (Charité und DRK), Ulm und Münster. Die Koordination läuft über die DGM.

Zur Therapie anderer seltener Muskelerkrankungen werden Tabletten entwickelt, die dem Körper eine Substanz zuführen, die ihm fehlt. Dazu gehört laut Dengler die sehr seltene GNE-Myopathie, bei der die Muskeln Speichelsäure benötigen: „Hier wird gerade eine vorläufige Zulassung eines Medikamentes angestrebt.“

Wie lebt man mit einer Muskelerkrankung?

„Niemals aufgeben“ – dieses Motto hat sich der 27-jährige Alessio Lunetto auf den Unterarm tätowieren und auch T-Shirts mit dieser Aufschrift bedrucken lassen. „Als Kind habe ich von meiner Krankheit erst nichts gemerkt. Dann fing ich an, zu stolpern und öfters hinzufallen“, erzählt der junge Mann, der seit seinem neunten Lebensjahr im Rollstuhl sitzt und von seiner Mutter gepflegt wird.

Die Diagnose „Duchenne“, die nach einer Gewebe-Entnahme in der Düsseldorfer Uniklinik feststand, war für ihn und seine Familie ein Schock. Doch Alessio hatte das Glück, über den ambulanten Kinder- und Jugendhospizdienst einen ehrenamtlichen Begleiter an die Seite gestellt zu bekommen: Andreas Vogt unternimmt mindestens einmal pro Woche etwas mit ihm. Sie sind Freunde geworden, gehen ins Varieté oder schauen sich Boxkämpfe an.

Bis Alessio Lunetto für diese Ausflüge fertig ist, kann es schon mal zwei Stunden dauern – doch das stört weder ihn noch Andreas Vogt. Denn beide wissen: Es kommt darauf an, die Muskeln beweglich zu erhalten, so gut es geht. Dabei helfen auch ein Physiotherapeut und der unbeugsame Wille von Lunetto, der vor drei Jahren eine schwere Lungenentzündung knapp überlebte. Für ihn kein Grund, sich zurückzuziehen: „Dann würde ich depressiv werden“, sagt er. In Düsseldorf macht das ungewöhnliche Gespann Furore, postet gemeinsame Bilder in den sozialen Medien und hat schon Comedy-Größen wie Atze Schröder hinter der Bühne getroffen. „Wir haben noch nie ablehnende Reaktionen erfahren“, sagt Andreas Vogt.