Wuppertal. Wäre es nicht praktisch, wenn der Acht-Minuten-Leser nur vier Minuten brauchen würde? Mit spezieller Technik angeblich kein Problem.

Für einen Text wie diesen, etwa 890 Wörter lang, braucht ein Leser, abhängig von Lesekompetenz und Konzentration, zwischen drei und acht Minuten. Je nachdem, wie viel Zeit ihm zur Verfügung steht und wie groß sein Interesse an dem Text ist, können drei Minuten schon sehr lang sein. Wäre es nicht praktisch, wenn der Acht-Minuten-Leser nur noch vier und der Drei-Minuten-Leser nur noch anderthalb Minuten brauchen würde?

Mit einer Speed-Reading-Technik kein Problem – angeblich. Ralph Radach, Professor für Allgemeine und Biologische Psychologie an der Bergischen Universität Wuppertal und zuvor am Florida Center for Reading Research, einem der renommiertesten Zentren für Leseforschung, hat sich in zahlreichen Untersuchungen mit dem Thema Schnelllesen befasst. Er sagt: „Mit dem richtigen Training kann jeder sein Lesetempo verdoppeln.“

Zwischen Fixpunkten sind die Augen faktisch blind

Auch wenn es sich so anfühlt: Die Augen gleiten nicht fließend über einen Text, sondern holprig. Etwa drei- bis fünfmal pro Sekunde hüpfen sie von einem Fixpunkt zum nächsten, „dazwischen sind wir faktisch blind“, sagt Radach. Während dieser kurzen Blindphasen wird die visuelle Information im Gehirn weiterverarbeitet, um den Sinn zu entschlüsseln. Die Momentaufnahmen werden dabei so geschickt zusammengefügt, dass die Illusion eines kontinuierlichen Prozesses entsteht. Doch unsere Augen springen nicht nur in Leserichtung, in unserem Sprachraum also von links nach rechts, sondern immer wieder auch von rechts nach links. Schaut man sich entsprechende Untersuchungen an, wirkt das Ganze oft eher konfus als planvoll. „Diese Regressionen machen etwa zehn bis 25 Prozent der Augenbewegungen beim Lesen aus“, sagt Ralph Radach. Je anspruchsvoller der Text, desto häufiger auch der Blick zurück. Das geschieht ganz automatisch, sobald etwas nicht verständlich zu sein scheint, sei es ein einzelnes Wort oder der Zusammenhang innerhalb des Satzes oder Abschnittes.

Dieses ständige Hin und Her kostet Zeit – und ist den Leseforschern zufolge nicht einmal zwingend notwendig: „Lange hat man angenommen, dass die Regressionen für das Leseverständnis unabdingbar sind“, so Radach. In mehreren Untersuchungen konnten er und andere Wissenschaftler jedoch zeigen, dass sie sich vermindern lassen, ohne das Verständnis drastisch zu beeinträchtigen. Auch andere „negative Lesegewohnheiten“, wie Radach sie nennt, drücken auf die Bremse. Das innere Mitsprechen zum Beispiel: Wenn die innere Stimme den Text im Kopf laut mitspricht, setzt sie der Lesegeschwindigkeit das Sprechtempo als Grenze. „Die gesprochene Sprache spielt beim Lesen eine wesentliche Rolle, die Klangeigenschaften eines Wortes werden automatisch aktiviert“, sagt Radach. Komplett verbannen lässt sie sich daher nicht, die laut lesende innere Stimme aber kann man theoretisch stumm schalten.

Um das eigene Lesetempo zu steigern, bieten sich zum einen Techniken an, die Regressionen vermeiden. So kann man bereits Gelesenes sofort verdecken, noch besser funktionieren laut Radach aber computergestützte Verfahren, wie etwa die Moving-Window-Technik, bei der sich ein Fenster über den jeweils zu lesenden Textbereich bewegt und ihn scharfstellt, während alle Bereiche außerhalb des Fensters unscharf sind. Wer das Schnelllesen in Eigenregie erlernen will, braucht, so Radach „eiserne Selbstdisziplin“. Er empfiehlt, einen ordentlichen einwöchigen Kurs zu suchen und danach mithilfe entsprechender Bücher oder Apps weiter zu üben.

„Mindestens doppelt so schnell lesen und dabei komplexe Texte besser verstehen“ – die Versprechen der Kursanbieter klingen verlockend, doch wie findet man ein seriöses, solides Seminar? „Der Kurs sollte unbedingt auf dem aktuellen Forschungsstand basieren“, sagt Radach. „Es gibt Übungen, die absoluter Quatsch sind, Übungen, die weder Schaden anrichten noch einen Nutzen haben – und sinnvolle Übungen.“ So sollten zunächst einmal Gedanken zur Vor- und Nachbereitung Bestandteil des Kurses sein, um die Teilnehmer für planvolles Lesen zu sensibilisieren. Das bedeutet: Bevor es ans Lesen geht, fragt man sich, mit welchem Ziel man den Text lesen will. Dadurch liest man automatisch effizienter. Nach dem Lesen wiederum wird geprüft, welche Informationen man in Bezug auf die anfängliche Fragestellung gewonnen hat.

Vom Wort-für-Wort-Lesen hin zu einem ganzheitlichen Lesen

Auch sollte der Kursleiter die Geschwindigkeit nicht schlagartig verdoppeln wollen, sondern kleinschrittig erhöhen – bei ständiger Verständniskontrolle. Die gelehrte Technik müsse vor allem darauf abzielen, den Leseprozess zu verändern: „vom Wort-für-Wort-Lesen hin zu einem ganzheitlichen Lesen“, sagt Radach. Dazu muss die parallele Verarbeitung von Sinneinheiten wie etwa „das alte Haus“ trainiert werden. „Man lernt, diese Einheiten automatisch zu erkennen – dadurch wird die Blickspanne, ein Bereich von etwa 15 Buchstaben, die man relativ klar sehen kann, immer besser ausgenutzt.“ Eine Erweiterung der Blickspanne isoliert zu trainieren, sei hingegen das falsche Mittel. Zu guter Letzt müssen auch negative Lesegewohnheiten wie Regressionen oder inneres Mitsprechen durch Training systematisch ausgemerzt werden. Der ideale Leser sei ein adaptiver Leser, sagt Radach. Er passe sein Tempo den Erfordernissen an. Pflichtlektüre liest er schnell, Genusslektüre gemütlich.