Hamburg. Tinnitracks hilft bei Tinnitus – mit der Lieblingsmusik vom Smartphone. Techniker Krankenkasse kooperiert mit Hamburger Start-up.

Der Trend zum Überwachen und Messen der eigenen Körperdaten hat einen gewaltigen Markt produziert. Millionen Deutsche nutzen für die Fitness, für Kalorienverbrauch, Blutzuckermessung und Hunderte andere Zwecke Programme ihrer Smartphones und „Wearables“. Für Handys und Tablet-Computer gibt es rund 379.000 Gesundheits-Apps. Nach Einschätzung von Experten sind fast alle Schrott.

Eine App allerdings ist jetzt geadelt worden. Es ist die Anwendung Tinnitracks aus dem Hamburger Start-up-Unternehmen Sonormed. Tinnitracks wird als erste App überhaupt auf Rezept verschrieben. Nach Abendblatt-Informationen wurde gerade der Vertrag zwischen Deutschlands größer gesetzlicher Krankenkasse, der Techniker, dem Verband der Hals-Nasen-Ohren-Ärzte sowie dem Unternehmen unterschrieben.

HNO-Ärzte-Chef Dr. Dirk Heinrich: Wir testen die App

HNO-Ärzte-Chef Dr. Dirk Heinrich sagte, man werde die App jetzt testen. „Das wird unter ärztlicher Kontrolle sein.“ Bei Tinnitus gebe es nicht viele Behandlungsoptionen. „Das Geräusch ist eine Gehirnerinnerung, die einem immer wieder vorgespielt wird.“ Und das führt für die Betroffenen mitunter zu Qualen. Die Techniker Krankenkasse hat in Hamburg allein 10.000 Tinnitus-Patienten, bundesweit gibt es zwei bis drei Millionen Patienten. Von einem zwischenzeitlichen Tinnitus sind noch deutlich mehr Menschen betroffen. Die Folge des Tinnitus können Schlafstörungen, Depressionen und häufig Arbeitsunfähigkeit sein.

Gerade hier liegt das Interesse der Krankenversicherungen, denn die Krankengeld-Zahlungen an ihre Versicherten sind einer der größten Ausgaben-Posten überhaupt. TK-Vorstandschef Dr. Jens Baas, selbst Arzt, sagte dem Abendblatt: „Tinnitracks ist tatsächlich eine ,App auf Rezept', sie wird vom Arzt verordnet. In unseren Augen bietet sie eine neue digitale Möglichkeit als Alternative zu konventionellen Therapien.“

Für Sonormed mit elf Mitarbeitern ist die App der Einstieg ins Kassensystem. Das bestätige die Qualität der Entwicklungsarbeit, sagte Geschäftsführer Jörg Land dem Abendblatt. Die App könne „die Akzeptanz für Digital-Health-Lösungen fördern“. Ohnehin hat Sonormed schon in der Vergangenheit positiv auf sich aufmerksam gemacht. Bei der Veranstaltung Startups@Reeperbahn wurden die Gründer immerhin mit 75.000 Euro unterstützt.

Die App bei Google Play und in Apples App-Store kostet 19,90 Euro

In Zukunft können TK-Patienten nach der Untersuchung beim Arzt und der Bestimmung der störenden Frequenz ein Benutzerkonto anlegen, die App herunterladen und darüber ihre Lieblingsmusik abspielen, die dann die störenden Geräusch ausblendet. Die Kosten für die App von 19,90 Euro im Monat übernimmt dann die Kasse.

Die TK sieht sich als Vorreiter der „App-Gesundheit“, ist sich aber auch der Schwachstellen und Hindernisse bewusst. Vorstandschef Baas sagte: „Es gibt bei den Gesundheits-Apps viel Humbug, weshalb man immer genau hinschauen muss. Idealerweise ist ein Nutzen für Patient und Arzt gegeben wie zum Beispiel auch bei unserer Diabetes-App, die schon nicht mehr zum Lifestyle- oder Präventions-Sektor zählt, sondern tatsächlich Teil der Patientenversorgung ist.“ Doch die Kasse fühlt sich von der Politik behindert: „Viele Politiker haben unglaubliche Angst, wenn das Wort Datenschutz fällt. Natürlich ist der Schutz von Gesundheitsdaten extrem wichtig, aber Datenschutz darf nicht zu Interessenschutz werden.“

Datenweitergabe wäre illegal

Baas sieht einen eklatanten Widerspruch: „Millionen Menschen nutzen ihre Gesundheitsdaten, geben sie zu US-amerikanischen Konzernen oder Start-ups. Aber wir sind als Krankenkasse in meinen Augen die Richtigen, um damit umzugehen, weil wir kein wirtschaftliches Eigeninteresse haben und strengsten gesetzlichen Vorgaben zum Datenschutz unterliegen.“ Doch Patienten haben Angst, die Daten ihrer Kasse anzuvertrauen und dann womöglich bestimmte Leistungen nicht mehr zu erhalten. Baas stellt fest: „Das wäre illegal und übrigens auch gar nicht im Interesse der Kasse.

Bei privaten Krankenversicherungen sieht die Welt anders aus: Sie bieten zum Teil Tarife an, die günstiger sind, wenn man seine Daten zur Verfügung stellt. Da fragen die Versicherten zu Recht: Wo ist der Haken?“ Die gesetzlichen Kassen dürfen sich ihre gesunden oder kranken Versicherten nicht aussuchen. „Wir dürfen keine Risikoselektion machen, das ist explizit verboten.“

Apps können helfen, Gesundheitskosten zu senken

Die Techniker und andere Kassen experimentieren derzeit mit Apps, die den Austausch von Daten zwischen Patienten und Ärzten erleichtern sollen und im Zweifel sogar Warnungen aussenden. So gibt es Allergie-Apps und Diabetes-Apps, die die Ergebnisse der Blutzucker-Messung zum Arzt übertragen. Sie erleichtern es chronisch Kranken, ihre Befindlichkeit zu dokumentieren. Kritiker sprechen von Überwachung. Deshalb bleibt beim Thema Datenschutz die Lage zwischen Patient, Arzt und Kasse angespannt. Auch die Industrie hat selbstredend großes Interesse, von den Datenschätzen zu profitieren.

Gleichzeitig warnen die Krankenkassen davor, dass die Ausgaben für Gesundheit immer weiter steigen. Dadurch werden auch die Arbeitnehmer und Rentner stärker belastet. Vor allem im Krankenhausbereich explodieren die Kosten. Ein Teil ist der alternden Gesellschaft geschuldet. TK-Chef Baas sagt auch: „Der Kostenanstieg bei den Arzneimitteln ist überdurchschnittlich. Neue Hepatitis-Medikamente mit Therapiekosten von 70.000 bis 80.000 Euro pro Fall machen erheblichen Druck. Solche Preise sind nicht mehr akzeptabel.. In anderen Fällen machen Pharmaunternehmen die Indikation immer enger, so dass es keine Vergleichstherapie mehr gibt, was wiederum den Preis in die Höhe treibt.“

Beiträge zur Krankenkasse steigen weiter

Im Jahr 2016 werden die Krankenkassen vermutlich um 0,2 oder 0,3 Prozentpunkte im Beitrag (derzeit 15,5 Prozent vom Brutto) steigen. Wer 3000 Euro brutto verdient, muss also jeden Monat bis zu neun Euro mehr zahlen. Der Arbeitgeberanteil von 7,3 Prozent bleibt stabil. Nach Baas' Einschätzung wird der Beitrag jedes Jahr um diesen Satz steigen. Und deshalb müssten sich auch die Unternehmen stärker beteiligen: „Es ist perspektivisch nicht vorstellbar, dass die Anteile von Arbeitgeber und Arbeitnehmer unbegrenzt auseinandergehen.“

Zusätzlich verhindere die Politik sie durch missratene Gesetze nicht, dass die Ausgaben in die Höhe schnellen. „Die Krankenhauskosten steigen rasant weiter – um zehn Milliarden Euro allein seit 2010. Daran ändert auch das neue Krankenhausgesetz nichts. Aus politischen Gründen traut sich niemand, Kliniken zu schließen, auch wenn sie nicht mehr benötigt werden.“

Jeder Landrat könne seinen Hut nehmen, wenn er zulasse, dass ein Krankenhaus dicht gemacht werde. „Der gesetzlich festgelegte Beitragssatz war schlicht zu hoch. Das hat problematische Ausgabenentwicklungen, die ja jetzt nicht vom Himmel fallen, übertüncht.“ Heißt: Durch eine Fehlkalkulation der Bundesregierung merken wir erst so spät, dass die Gesundheit uns eigentlich noch viel teurer zu stehen kommt.

Auch deshalb macht die TK so viel Druck bei den Apps. Die derzeitige Gesetzeslage verhindert zum Beispiel auch eine zeitgemäße Kommunikation zwischen Patient und Kasse: Wenn heute ein Kunde eine E-Mail schicke, so Baas, dürfe man aus Datenschutzgründen nicht auf dem gleichen Weg antworten.