Münster. Brauch hat in Thüringen und Sachsen seinen Ursprung. Volkskundlerin spricht von „süßem Trostpflaster vor dem Ernst des Lebens“.

In vielen Bundesländern, darunter Hamburg, ist es diese Woche wieder so weit: Erstklässler starten ihre Schullaufbahn, im Arm eine Schultüte. Dass ihre Geschichte schon mehr als 200 Jahre alt ist, dürfte den Jungen und Mädchen ziemlich egal sein. „Dabei ist die Schultüte ein überaus spannendes kulturelles Zeichen“, so die Volkskundlerin Christiane Cantauw. Nach Erkenntnissen der Forscherin vom Landschaftsverband West­falen-Lippe verbreitete sich „das süße Trostpflaster vor dem Ernst des Lebens“ von Thüringen und Sachsen aus allmählich in Deutschland, Österreich und der deutschsprachigen Schweiz.

1910 habe in Sachsen dann die fabrikmäßige Herstellung von Schultüten begonnen. Inzwischen wird etwa jede zweite Schultüte im fränkischen Bamberg produziert. Zu Anfang der Karriere der bunten Pappkegel, als es in Thüringen und Sachsen bereits üblich gewesen sei, die Schulneulinge mit ihnen auszustatten, hätten die Erstklässler in anderen Regionen allenfalls ein süßes Brötchen, einen Apfel oder eine Tafel Schokolade zum Schulanfang erhalten, so Cantauw. Für Westfalen beispielsweise gebe es etwa seit den 1930er-Jahren Belege für den Brauch.

Erste schriftliche Belege für die Tüten gab es den Angaben zufolge bereits 1801 im Thüringer Wald, 1817 für Jena und 1820 für Dresden. Große Verbreitung hat der Brauch nicht zuletzt durch ein Kinderbuch von 1852 gefunden: Im „Zuckertütenbuch für alle Kinder, die zum ersten Mal in die Schule gehen“ von Moritz Heger heißt es, dass es im Keller der Schule einen besonderen Baum gebe, von dem der Lehrer den braven Schülern eine Tüte pflücke.

Zuckertütenbäume oder das Verteilen des Tüteninhalts an Nachbarkinder blieb in anderen Gegenden lange Zeit aber ebenso unbekannt wie große familiäre Feiern zum Schuleintritt oder eine Konkurrenz um die größte und schwerste Zuckertüte, wie die Volkskundlerin berichtet. Aus Westfalen etwa seien bis in die 1960er-Jahre die meisten Berichte über den ersten Schultag eher ernüchternd: „Es war keine große Einführung.“

Schultüten gab es nicht, auch keine anderen Geschenke, wie es etwa über eine Einschulung 1923 in Detmold heißt. Und 1947 sah es in Bottrop – nicht nur kriegsbedingt – nicht viel besser aus: Schultüte oder Geschenke: Fehlanzeige.

Heute wird dem Schuleintritt eine zunehmende Bedeutung beigemessen. Mittlerweile ist es üblich, dass Paten, Großeltern, Tanten und Onkel an den Feierlichkeiten in der Schule und einem anschließenden Familienfest teilnehmen. Dabei fehlt auch meistens ein Gottesdienst zur Schuleinführung nicht, an vielen Orten ökumenisch, im Hamburger Stadtteil St. Georg seit Jahren sogar interreligiös – mit Rücksicht auf die vielen muslimischen Kinder. So erteilen bei der Feier in der evangelischen Dreieinigkeitskirche sowohl der Pastor als auch der Imam einen Segen. Mit dabei: schillernde Schultüten, unabhängig vom religiösen Bekenntnis des Trägers.

Inzwischen warnen Soziologen davor, die Zuckertüten zum Statussymbol aufzuwerten, wenn Größe, Gewicht und Inhalt schon vor der ersten Unterrichtsstunde zum Klassenkampf führen. Vielerorts ist es Brauch, die angehenden Erstklässler Schultüten am Ende der Kindergartenzeit selbst basteln zu lassen. Das gilt als pädagogisch wertvoll und preisgünstiger.

Doch insgesamt, so hat Volkskundlerin Cantauw beobachtet, weisen die finanziellen Aufwendungen für Erstausstattung und Geschenke zum Schuleintritt darauf hin, dass diesem Übergangsritual mehr und mehr Bedeutung beigemessen wird. „Schule ist längst keine lästige Pflicht mehr, sondern die Eintrittskarte in ein ,gutes Leben‘“, sagt die Forscherin. Symbol dafür ist die bunte Wundertüte.