Eppendorf. 1938 musste die Ärztin Ingeborg Rapoport emigrieren – jetzt erhielt die 102-Jährige im UKE endlich ihre Doktorurkunde.

Als Ingeborg Rapoport ans Mikrofon trat, war das für die Zuhörer ein überaus emotionaler Moment. Mit erstaunlich fester Stimme wandte sich die Geehrte an das Auditorium. „Ich möchte mich bedanken, auch im Namen derjenigen, die diesen Tag nicht erleben und Ähnliches wie ich erlebt haben – und viel Schlimmeres.“ Viele der Anwesenden schämten sich ihrer Tränen nicht – vor allem, als Rapoport zu den Klängen des Musikstücks „What a Wonderful World“ langsam mit ihrer Doktor-Urkunde zu ihrem Platz zurückging und ihre Angehörigen umarmte.

Rapoports Auftritt war Höhepunkt und Abschluss einer unglaublichen Geschichte, an der in den vergangenen Monaten viele Menschen Anteil genommen hatten. 1938 war die damalige Ingeborg Syllm als Jüdin aus Deutschland in die USA geflüchtet, ohne dass ihr die Zulassung zur Promotion ermöglicht worden war. Dass Rapoport ihre Doktorarbeit fertiggestellt und eingereicht hatte, belegt unter anderem ein Zertifikat ihres potenziellen Doktorvaters. Mehr als 70 Jahre später hörte der UKE-Dekan Prof. Uwe Koch-Gromus von dem Fall. Er beschloss, der hochbetagten Berlinerin die Doktorprüfung nachträglich zu ermöglichen – und alle zuständigen Gremien stimmten dem Vorschlag einstimmig zu. Die Prüfung wurde in Rapoports Berliner Wohnung abgehalten, die gestrige Übergabe der Promotionsurkunde im Rahmen einer Feierstunde war dann nur noch – schöne – Formsache.

Als Ingeborg Rapoport das UKE gestern erstmals seit dem an ihr begangenen Unrecht wieder betrat, waren Spannung und Nervosität des Auditoriums mit Händen zu greifen. Niemand konnte sich vorstellen, mit welchen Gefühlen die älteste Neupromovierte der Welt diesem Ereignis begegnen würde.

Doch Rapoport gelang es dank ihrer starken Ausstrahlung im Handumdrehen, die mehr als 150 Gäste, die sich zu ihrer Würdigung im Festsaal des Erika-Hauses eingefunden hatten, für sich einzunehmen. Mehr noch: Die anfängliche Befangenheit, die mancher angesichts des ungewöhnlichen Festakts empfunden haben mag, wich Sympathie und Ehrfurcht. Begleitet von ihren zwei Söhnen, zwei Töchtern und mehreren Enkeln wurde die freundlich lächelnde Rapoport, die mittlerweile fast blind ist, an ihren Platz geführt. Gestützt auf einen Stock, wirkte sie trotz ihres hohen Alters rüstig und abgeklärt.

Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank (Grüne), die Grüße des Senats übermittelte, bekannte in ihrer Rede offen, dass sie aufgeregt und gerührt sei, was auch deutlich zu spüren war. „Für Wiedergutmachung und Gerechtigkeit ist es nie zu spät“, sagte Fegebank, „und für die Aufarbeitung von Unrecht schon gar nicht.“ In einem kurzen Gespräch vorab habe ihr Ingeborg Rapoport gesagt, dass Hamburg heute schöner sei als früher, erzählte Fegebank – „viel schöner sogar“.

Die junge Ingeborg Syllm wollte unbedingt
Ärztin werden
Die junge Ingeborg Syllm wollte unbedingt Ärztin werden © Susanne Richter

Mit Beklommenheit lauschten die Gäste den Schilderungen von Dr. Susanne Richter, der Tochter Ingeborg Rapoports. Sie hatte es übernommen, die Lebengeschichte ihrer Mutter zu erzählen, und dabei wurde schnell deutlich, wie dramatisch und schwer dieser Lebensweg zeitweise war. Mit knapp 30 Mark sei die junge Ingeborg Syllm damals in den USA angekommen. An ihrem ersten Arbeitsplatz, einem Krankenhaus in Brooklyn, habe sich niemand für ihr Schicksal interessiert, sie sei völlig isoliert gewesen. „Das tiefe Gefühl der Einsamkeit und Verlassenheit hat meine Mutter gerade in den vergangenen Nächten wieder eingeholt“, berichtete Richter stockend, „sie hatte das verdrängt.“

Streckenweise hoch emotional war auch die Rede von Prof. Uwe Koch-Gromus, der schilderte, wie jüdische Dozenten und Studenten während der NS-Zeit am UKE drangsaliert wurden. UKE-Direktor Prof. Burkhard Göke sagte, es sei nun gelungen, „ein Stück Gerechtigkeit wiederherzustellen“. Das erfülle das UKE mit Genugtuung, so Göke, der Rapoport mit „verehrte Frau Kollegin“ ansprach.

Es gab aber durchaus auch lustige Momente während der Feier – zum Beispiel, als Susanne Richter erzählte, dass ihre Mutter einst den Satz einer Lehrerin zu ihrem Lebensmotto werden ließ: „Inge, man muss auch mal den Mut haben, sich zu blamieren.“ Richter zitierte auch aus einem Empfehlungsschreiben, mit dem sich ihre Mutter in Cincinnati bewarb. Darin heißt es: „Sie besitzt keinen Heller – und das Schlimmste: Es kümmert sie nicht.“ Gelächter auch, als Koch-Gromus berichtete, wie ehrgeizig die 102-Jährige während der Prüfung war. „Sie hat sich geärgert, weil ihr drei Fachtermini nicht gleich eingefallen waren, das trägt sie sich heute noch nach.“ Anekdoten wie diese machen deutlich, dass sich die am Loogestieg aufgewachsene Ingeborg Rapoport zeitlebens Humor und Willensstärke bewahrte.

In ihrer kurzen Ansprache machte Rapoport deutlich, dass sie die späte Ehrung auch als ein Angebot versteht, bei der Aufarbeitung des Unrechts von einst aktiv mitzuhelfen. Sie empfinde das als „einen Akt der Befreiung“. Was sie in den vergangenen Monaten erlebt hat, sei das hoffnungsvolle Zeichen eines neuen, humanistischen Geistes an einer Universität“.