Berlin. Ein neues wissenschaftliches Gutachten zeigt Wege zu einer Fleisch- und Milchproduktion, die das Wohl der Tiere fördert.

Etwa drei bis fünf Milliarden Euro müsste es sich die deutsche Gesellschaft kosten lassen, damit Schweine, Rinder, Hühner, Puten und sonstiges Vieh so gehalten werden können, dass es den Tieren gut geht. Zu diesem Ergebnis kommt das Gutachten „Wege zu einer gesellschaftlich akzeptierten Nutztierhaltung“, das am Mittwoch an Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU) in Berlin übergeben wurde.

Verfasst hat es der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik (WBA), dem 14 Spitzenforscher angehören. Sie fordern eine „neue Kultur der Erzeugung und des Konsums tierischer Produkte“ und setzen darauf, dass ihre Vorschläge auf fruchtbaren Boden fallen. Schließlich gebe es inzwischen eine „verringerte gesellschaftliche Akzeptanz der Nutztierhaltung“ – anders formuliert: Viele Fleischkonsumenten lassen die qualvollen Verhältnisse in Ställen nicht mehr kalt.

Das Gutachten nennt neun Leit­linien, die die Tierhaltung zugunsten der Stallbewohner grundlegend verändern könnten. So sollen alle Tiere Frischluft schnuppern können, auf dem Freiland, in Volieren oder in sogenannten Außenklimaställen (ohne Wände). „Die Tiere erleben dort den Wetterwechsel. Das ist für sie abwechslungsreich, und es fördert ihre Gesundheit. Außerdem sieht man die Tiere, wenn man über Land fährt. Das wirkt der Entfremdung der Konsumenten von der Nutztierhaltung, die ihnen Fleisch und Milch liefert, entgegen“, sagt Prof. Harald Grethe, Agrarökonom an der Universität Hohenheim und Vorsitzender des WBA.

Rinder scheuern sich gern an Bürsten

Die zweite Leitlinie fordert unterschiedliche Funktionsbereiche mit jeweils passenden Bodenbelägen. Wo gefressen wird, mag im Schweinestall ein Vollspaltenboden okay sein, aber der Liegebereich sollte mit Gummimatten oder anderem Material gepolstert sein. Ein zukunftsfähiger Stall sollte seinen Insassen zudem Beschäftigungsmöglichkeiten bieten (Leitlinie drei). Grethe nennt Beispiele: „Schweine spielen mit Metallketten oder Holzstücken und wühlen gern in gehäckseltem Stroh. Hühner picken gern an Strohballen herum, Rinder scheuern sich an Bürsten.“

Die heute verbreiteten eintönigen Ställe führen dazu, dass sich die Tiere aus Langeweile gegenseitig attackieren. Schweine beißen den Ringelschwanz des Nachbarn ab, Geflügel pickt Artgenossen Federn aus. Um dies zu vermeiden, werden bei jungen Ferkeln die Ringelschwänze oft amputiert und Küken die Schnäbel gekürzt. Solche Amputationen, die nur dazu dienen, die Tiere an bestimmte Haltungssysteme anzupassen, wollen die Gutachter verbieten (Leitlinie fünf).

Die heutigen Haltungsverordnungen verlangen zudem zu wenig Bewegungsfreiheit, die Tiere brauchen mehr Platz (Leitlinie vier). Die Vorgaben für Bio-Betriebe seien in diesem Punkt sowie vielen anderen in Ordnung, aber auch in der Bio-Haltung gebe es noch Änderungsbedarf, sagt Grethe. So dürften Milchkühe auch dort weiterhin im Stall angebunden werden.

Drei weitere Leitlinien befassen sich mit dem Management im Stall. Dieses sowie das gewählte Haltungssystem entscheiden stärker über das Tierwohl als die schiere Betriebsgröße, heißt es in dem Gutachten. Es schlägt Indikatoren vor, die es den Landwirten oder dem Stallpersonal erleichtern, Missstände zu erkennen: Wie viele Schweineschwänze sind lädiert und sind es mehr als bei den vorangegangenen Erhebungen? Lahmen Rinder, wie ist es um das Federkleid von Hühnern und Puten bestellt?

In Großbetrieben oft Lohnarbeiter

Insbesondere in Großbetrieben würden oftmals ungelernte Lohnarbeiter in den Ställen eingesetzt, so Grethe. Das Personal müsse besser geschult und motiviert werden, sich stärker um das Wohl der Tiere zu kümmern. Ein Managementproblem sei auch der hohe Antibiotikaverbrauch: „Die Arzneimittel sind sehr günstig, deshalb werden sie oft zu leichtfertig eingesetzt.“

Die neunte Leitlinie zielt auf die Tierzucht. Hier steht ein möglichst hohe Ertrag im Fokus. Das ließ den Brustmuskel von Puten und Masthähnchen soweit wachsen, dass sich die Tiere zum Ende der Mastzeit kaum mehr auf den Beinen halten können. Statt dessen sollten auch Eigenschaften wie Stabilität der Knochen und die Gesundheit der Beine züchterisch entwickelt werden, fordert das Gutachten.

Ein Großteil der Tierhalter in Deutschland müssten kräftig umbauen, um die Leitlinien erfüllen zu können – die entstehenden Mehrkosten der Bauern veranschlagen die Agrarexperten auf 13 bis 23 Prozent. Da die landwirtschaftliche Erzeugung etwa ein Viertel des Fleischpreises an der Theke ausmacht, würde sich dieser um etwa drei bis sechs Prozent verteuern.

Gutachten sieht hohe Verbraucherbereitschaft

Viele Verbraucher seien bereit, höhere Preise für tiergerechter erzeugte Fleischprodukte zu zahlen, betont das Gutachten. Doch dieses Potenzial werde zurzeit nicht ausgeschöpft, da sowohl der Milch- als auch der Fleischmarkt von Niedrigpreisen diktiert werden und die Preisaufschläge für besonders tierfreundlich erzeugtes Fleisch mit oft mehr als 100 Prozent aufgrund der kleinen Mengen sehr hoch seien. Nicht jeder Fleischesser, dem das Wohl der Tiere etwas wert ist, müsse sich Bio-Fleisch leisten, das zwei- bis dreimal so teuer ist wie konventionelles Fleisch, sagt Grethe. Das Tierschutzlabel vom Deutschen Tierschutzbund biete einen unterstützenswerten Kompromiss – Hühner- und Schweineprodukte mit dem Zeichen vertreiben in Hamburg die Netto Marken-Discounter.

Zu einer umfassenden Trendwende in den Ställen brauche es jedoch ein mehrstufiges staatliches und intensiv beworbenes Tierschutzlabel, dazu eindeutigere gesetzliche Standards sowie Prämien und Kompensationszahlungen für die Landwirte, schreiben die Gutachter.

Auf EU-Ebene sollten Gelder aus der ersten Säule der Agrarsubventionen (pauschale Flächenförderung) in die zweite Säule (zielorientierte Maßnahmen zur Entlohnung von Leistungen, die die Landwirtschaft erbringt, z. B. Umweltschutz) umgeschichtet werden, um damit verstärkt tierschutzgerechte Produktion zu fördern. Denn die Mehrkosten solcher Haltungssysteme können nicht nur den Landwirten angelastet werden, betont Grethe: „Sie müssen im Rahmen einer umfassenden Strategie von Wirtschaft, Staat und Konsumenten gemeinsam getragen werden.“

Ansonsten bestünde die Gefahr, dass die Tierhaltung ins Ausland abwandert und unser Bedarf importiert würde – und das würde, so Grethe, das Tierwohl eher verschlechtern.