Hamburg. Mit Röntgenblitzen „fotografiert“ Leibniz-Preisträger henry Miller die Struktur von Molekülen

Zum Beispiel ein Theaterschauspieler: Um ihn auf der Bühne ins rechte Licht zu rücken, um Mimik und Kostüm sichtbar zu machen, genügen ein paar normale Scheinwerfer. Was aber, wenn der Protagonist erheblich kleiner ist als ein Staubkorn, mit bloßem Auge nicht erkennbar? In diesem Fall braucht es einen extrem hellen, fokussierten Strahl – der dann allerdings so viel Energie mit sich bringt, dass er das Mini-Objekt auslöscht, bevor es überhaupt sichtbar wird.

Der Mann, der es dank eines Tricks dennoch schafft, Bilder von der Welt der kleinsten Teilchen zu machen und der die Grenzen dieser ganz speziellen Form der Fotografie sogar noch weiter verschiebt, ist Physiker und heißt Henry Chapman. Viel Aufhebens um seine Erfolge macht der 47-Jährige allerdings nicht; er berichtet zurückhaltend von seiner Arbeit, schaut immer wieder zu Boden, während er redet, stockt, überlegt, trägt einige Gedanken vor, überlegt wieder. Hin und wieder huscht ein Lächeln über sein jungenhaftes Gesicht. „Ich kann das alles manchmal selbst kaum glauben“, sagt Chapman.

Chapman erhält heute in Berlin den mit 2,5 Millionen Euro dotierten Preis

Der gebürtige Brite forscht am Hamburger Zentrum für Freie-Elektronen-Laser (CFEL); er untersucht mit Röntgenblitzen die Struktur komplexer Biomoleküle, also winziger Bestandteile etwa von Proteinen. Weil er auf diesem Gebiet nach Ansicht der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zur Weltspitze gehört, erhält er am heutigen Dienstag in Berlin neben sieben weiteren Wissenschaftlern die wichtigste Auszeichnung für deutsche Forscher: den mit jeweils 2,5 Millionen Euro dotierten Leibniz-Preis.

Um die Bedeutung seiner Arbeit zu verstehen, muss man sich klarmachen, dass etliche biochemische Prozesse im menschlichen Körper zumindest im Detail noch nicht verstanden sind. Das aber ist wichtig, um die Entstehung von Krankheiten zu verstehen und neue Arzneimittel zu entwickeln.

Die Grundlage von Chapmans Forschung ist die Röntgenstrukturanalyse, eine Methode, die vor mehr als 100 Jahren von dem deutschen Physiker Max von Laue begründet wurde. Das Prinzip: Man nehme einen Kristall, bestrahle ihn mit Röntgenlicht und zeichne auf, wie er das Röntgenlicht beugt. Anhand dieser Daten lässt sich dann die molekulare Struktur des Kristalls rekonstruieren.

Auch aus vielen Biomolekülen lassen sich Kristalle bilden. Nur in dieser Form lassen sie sich bisher überhaupt mit Röntgenstrahlen genauer untersuchen. Im nichtkristallisierten Zustand beugt das Molekül zu wenig Licht, um starke Signale zu liefern. Die kristallisierte Version ist meist erheblich größer; der Kristall wirkt dann wie ein Signalverstärker. Aber erst wenn viele kristallisierte Moleküle in eine regelmäßige Anordnung gebracht und Röntgenstrahlung ausgesetzt werden, ergibt sich aus der Überlagerung der Signale ein verwertbares Muster.

In den vergangenen Jahrzehnten wendeten Physiker diese Methode vor allem mithilfe von Synchrotronquellen an. Dabei entstehen die Röntgenstrahlen in Teilchenbeschleunigern. Diese Maschinen – eine von ihnen war Namensgeber für das Deutsche Elektronen-Synchrotron (Desy) in Bahrenfeld, auf dessen Gelände heute das CFEL angesiedelt ist – seien ein „Segen für die Strukturbiologie“, hieß es vor Kurzem im Fachjournal „Nature“. An Synchro­tronquellen seien schon viele Tausend Strukturdaten gewonnen worden.

Doch das Vorgehen hat seine Grenzen, und die beginnen am Rand des Nanokosmos’. Die Synchrotronquellen sind zu schwach, um extrem kleine Strukturen bis hin zu Atomen auszuleuchten, die nur wenige Millionstel Millimeter messen. Und ausgerechnet viele wissenschaftlich interessante Biomoleküle wie Membranproteine, die den molekularen Verkehr in Zellen hinein und wieder heraus vermitteln und Ansatzpunkte für Medikamente sein könnten, bilden keine ausreichend großen Kristalle für die Analyse mit Synchrotronquellen.

Milliardenfach heller leuchten neuartige Röntgenlaser, deren erste Vertreter zu Beginn der 2000er-Jahre gebaut wurden. Das Prinzip dieser sogenannten Freien-Elektronen-Laser (XFEL, das X steht für X-ray): In einem Teilchenbeschleuniger werden Elek­tronen nahezu auf Lichtgeschwindigkeit und dann durch Magneten auf einen Slalomkurs gebracht, wodurch die Teilchen extrem intensives Röntgenlicht aussenden.

Als Wissenschaftler das Konzept für Untersuchungen mit Röntgen-FEL entwickelten, tauchte allerdings ein gravierendes Problem auf: Eine derart starke Strahlung, so schien es zunächst, würde jede Probe zerstören, bevor sich ein brauchbares Beugungsbild erzeugen ließe.

Eine Lösung präsentierten im Jahr 2000 Forscher um den Physiker Janos Hajdu von der Universität Uppsala in Schweden: Sie zeigten in Simulationen, dass es doch eine Gelegenheit geben sollte, Fotos zu machen, nämlich in einer unvorstellbar kleinen Zeitspanne von zehn Billardstel Sekunden. So „lange“ – 0.000.000.000.000.01 Sekunden – dauere es, bis die Probe im Röntgenlicht zerplatze. Wenn die Laserpulse kurz genug seien, sollten die Lichtteilchen die Probe in dieser Zeit passieren und Details über ihre Struktur sammeln können, so die Berechnungen.

Weil XFEL-Geräten den Planungen zufolge solch kurze Pulse erzeugen würden, schien es nun prinzipiell endlich möglich, auch Nanokristalle ins Visier zu nehmen. Doch es gab noch weitere Probleme: Wie sollte man die winzigen Proben zielgenau in den Röntgenstrahl befördern und dann auch noch möglichst mehrere Aufnahmen hintereinander hinbekommen?

Hier kam Henry Chapman ins Spiel, der damals noch in Kalifornien arbeitete, aber bereits Kontakte nach Hamburg pflegte. Zusammen mit dem US-Physiker John Spence entwickelt Chapman ein Gerät, das ähnlich wie ein Tintenstrahldrucker funktioniert: Es spritzt einen extrem feinen Strahl aus einer Flüssigkeit, in der Nanokristalle schwimmen, über eine spezielle Düse in den Röntgenstrahl. So gibt es ständig Nachschub an Nanokristallen. 2005 zeigte ein Team um Chapman erstmals am Laser FLASH in Hamburg, dass die Methode tatsächlich Sinn macht; 2009 erkannten die Forscher dann am LCLS, dem bis heute stärksten Röntgenlaser der Welt in Stanford (Kalifornien), dass das Verfahren und das Konzept „dif­fraction before destruction“ (Beugung vor Zerstörung) auch bei noch intensiveren Laserblitzen funktioniert.

Tiefere Einblicke in Ursache der tropischen Schlafkrankheit

Obwohl das ein Durchbruch war, sei es in Kalifornien für ihn schwer gewesen, Unterstützung zu bekommen, erzählt Chapman. „Ich musste immer kämpfen.“ Hamburg hingegen warb um ihn – und so sagte er schließlich zu, zog 2007 mit seiner Frau und seiner Tochter in die Hansestadt. Es ging Schlag auf Schlag weiter, wobei der Physiker weiterhin den Röntgenlaser LCLS in Kalifornien nutzte: 2012 klärte ein Team um Chapman die Struktur eines Parasitenproteins auf, das die tropische Schlafkrankheit verursacht. 2013 entschlüsselten Wissenschaftler um Chapman die molekulare Struktur des Serotonin-Rezeptors. Serotonin ist ein wichtiger Botenstoff des Nervensystems und an der Regulierung etlicher Körperfunktionen beteiligt, darunter Blutdruck und Verdauung.

Ende 2014 beobachteten Forscher um Chapman ein lichtempfindliches Biomolekül bei der Arbeit. Dafür sprühten sie Proteinkristalle in den Röntgenstrahl. Ein blauer Lichtblitz löste dabei den Photozyklus aus. Aus den Streubildern errechneten die Forscher die dreidimensionale Struktur des Proteins.

Das soll aber längst noch nicht alles gewesen sein. Dem LCLS gelingen 120 Schnappschüsse pro Sekunde – bis zu 27.000 Lichtpulse pro Sekunde soll dagegen der Röntgenlaser European XFEL schaffen. Für ihn wird derzeit ein 3,4 Kilometer langer Tunnel von Bahrenfeld bis nach Schenefeld gebaut. 2017 sollen die ersten Experimente beginnen. „Wir werden dann Messungen in wenigen Tagen bewältigen können, die in Stanford heute Wochen dauern“, sagt Henry Chapman. Der Leibniz-Preis soll ihn dabei unterstützen.