Nur zwei Fakultäten an der Hamburger Uni prüfen Examensarbeiten mit der Turnitin-Software. 2008 einziger Fall eines schweren Plagiats.

Hamburg. Der Satz klingt ganz harmlos. „Mit der Anzahl der Teilnehmer nimmt die Komplexität der Verhandlungen zu.“ Eine Allerweltsweisheit, trifft auf Kleingartenvereine ebenso zu wie auf EU-Verhandlungen, könnte überall stehen. Zunächst mal steht sie in einer Hausarbeit an der juristischen Fakultät der Uni Hamburg. Eike Westermann, wissenschaftlicher Mitarbeiter, hat sie in das Prüf-Programm „Turnitin“ eingelesen. Turnitin (engl.: turn it in – stell es hinein) sucht im Internet nach gleichlautenden Formulierungen und wird fündig – unter anderem bei der Uno und auf Seiten über Management-Seminare. Die Allerweltsweisheit in der Hausarbeit wird auf dem Bildschirm rötlich markiert.

Und noch weitere Passagen leuchten rötlich auf. Die nächste klingt spezieller: „…auf den Erwerb von Macht und Ämtern, soziale Anerkennung gerichtet“. Eike Westermann klickt auf die Markierung, und in einem Fenster auf dem Bildschirm erscheint, wo Turnitin die Formulierung gefunden hat: Sie steht in dem Aufsatz „Politischer Wettbewerb“ von Arthur Benz im „Handbuch Governance“.

Der Fall Guttenberg und die Folgen. In Deutschland wird über Doktorarbeiten, akademische Grade, Schummelei und Ghostwriting debattiert wie noch nie.

Wenn der Verfasser der Hausarbeit das nicht in einer Fußnote vermerkt hat, hat er dann geschummelt? Oder bezieht er den „Erwerb von Ämtern und Macht“ auf etwas ganz anderes? Das Turnitin-Programm weiß das nicht. „Es stellt nur Übereinstimmungen fest“, sagt Westermann, der an der Fakultät für Rechtswissenschaft mit der Software arbeitet.

Turnitin ist nur ein Hilfsmittel, das seit zweieinhalb Jahren an der Jura-Fakultät benutzt wird, um eventuelle Plagiate in Examenshausarbeiten zu finden. Wenn Professor Hans-Heinrich Trute die Arbeiten seiner Studierenden liest, muss er die Übereinstimmungen prüfen und interpretieren. Im Fall des „Erwerb von Macht und Ämtern“ war das Handbuch korrekt in einer Fußnote zitiert worden.

Beim Vergleichs-Durchlauf hat Turnitin eine Zahl ermittelt, in diesem Fall „23 Prozent“: der Anteil der im Netz gefundenen Übereinstimmungen. Und der liegt hier im Normalbereich. „Bei Arbeiten mit vielen Fußnoten kommt man regelmäßig auf 20 Prozent Übereinstimmungen, das haben wir getestet“, sagt Trute. Der Grund: In den Fußnoten und der Literaturliste juristischer Arbeiten werden Quellen und Nachweise genannt, die im Netz stehen, etwa Gesetzessammlungen oder Standardwerke. Wenn der Professor allerdings auf größere wörtlich gleiche Passagen stößt, ohne dass deren Quelle vermerkt wurde, weckt das Verdacht. Es gibt aber auch Arbeiten, die nur „5 Prozent“ Übereinstimmungen aufweisen. „Das ist so gering, da fange ich gar nicht erst an, nach den Treffern zu suchen“, sagt Trute.

Da in das Programm schon viele Arbeiten anderer Studierender eingelesen wurden, kann es Fälle finden, in denen Kommilitonen voneinander abgeschrieben haben. Aber Turnitin hat auch seine Grenzen: Es kann nur in Dateien suchen, zu denen es Zugang hat. Dazu gehört das Internet, aber Fachzeitschriftenarchive oder juristische Datenbanken erschließt es zumindest in Deutschland (noch) nicht. Auch ältere juristische Werke, die noch nicht digitalisiert vorliegen, bleiben außen vor. Jede Uni-Fachrichtung müsste Turnitin erst nach ihren Erfordernissen einrichten. „Aber man darf nicht glauben, dass so eine Software alles ersetzt“, sagt Trute.

Die besten und unverzichtbarsten Mittel zum Aufstöbern von Plagiaten sind nämlich immer noch sprachliche Sensibilität und Fachverstand. Die Alarmglocken schellen bei Trute beispielsweise, wenn er in der studentischen Arbeit plötzlich sprachliche Stilwechsel entdeckt. Wenn ein langweiliger, substantivischer Stil zum Beispiel plötzlich blumig und verbstark wird, ist das ein Anzeichen dafür, dass hier jemand anderes als der Verfasser „spricht“. Oft lässt sich schon mit einfachen Suchmaschinen herausfinden, woher die Textbausteine dieses Formulierungsfrühlings kamen.

Bisher werden bei den Juristen nur Examensarbeiten mit Turnitin überprüft. „Bei den Doktorarbeiten haben wir bisher immer darauf vertraut, dass die Kriterien guter wissenschaftlicher Arbeit erfüllt werden“, sagt Trute. Außerdem vertraut der Fachbereich auf etwas anderes: Er bietet für Studienanfänger eine „Einführung in das rechtswissenschaftliche Arbeiten“ an, wo die Studierenden lernen, wie sie richtig zitieren und referieren, wo sie Quellen finden und wann Fußnoten nötig sind. Für Examenskandidaten folgt ein vertiefendes Seminar über Stil, Darstellung und Themenaufbau.

„Es geht ja nicht in erster Linie darum, Sünder zu überführen, sondern gute wissenschaftliche Grundlagen zu schaffen“, sagt Eike Westermann. „Wichtig ist, dass die Studierenden ein Gefühl für die Wertschätzung wissenschaftlicher Leistungen und damit auch der eigenen Leistung bekommen.“ Das Programm ist nicht obligatorisch: Die Studierenden stimmen nur der Möglichkeit zu, dass ihr Professor ihre Hausarbeit bei Turnitin (einem kanadischen Anbieter) einstellt. Fremde und ausländische Nutzer des Programms haben auf die Hausarbeiten keinen Zugriff, es sei denn, dass der Betreuer der Arbeit zustimmt.

Zuvor hatte schon die Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften Turnitin eingeführt. Bei den Germanisten, Anglisten, Romanisten, Theologen und anderen Geisteswissenschaftlern sieht man die Notwendigkeit nicht. Ihm sei nie etwas von einem Plagiatsfall in einem Promotionsverfahren bekannt geworden, auch nicht in den zurückliegenden Jahren, sagt Prof. Ulrich Moennig, Vorsitzender des Promotionsausschusses der Fakultät für Geisteswissenschaften.

„Die Doktorandin oder der Doktorand muss alle Hilfsmittel und Hilfen angeben und an Eides statt versichern, die Dissertation selbst verfasst und keine anderen als die angegebenen Hilfsmittel benutzt zu haben“, heißt es in der Promotionsordnung der Fakultät. Jede Dissertation wird von einer Prüfungskommission aus mindestens drei Hochschullehrern begutachtet. „Man kann davon ausgehen, dass ein Fall von Plagiat innerhalb der Prüfungskommission auffallen würde“, sagt Moennig. „Auch werden Dissertationen publiziert, was eine öffentliche Kontrolle mit sich bringt.“ Eine spezielle Software zur Ermittlung von Plagiaten einzusetzen, „das wäre so etwas wie ein unbegründeter Generalverdacht.“

Mit demselben Argument hatten die Studentenvertreter im Asta Turnitin kritisiert. Aber es kommt vor, was nicht vorkommen soll: Am Institut für Romanistik sind „eine Reihe von Fällen aufgetreten, in denen Texte oder Teile von Texten aus dem Internet, aber auch aus fremden Hausarbeiten kopiert und als eigene Leistung ausgegeben wurden“, steht in einem Infoblatt der Uni Hamburg. Semester- oder Abschlussarbeiten mit nachgewiesenen Plagiaten werden mit der Note ungenügend zurückgegeben, „alle Lehrenden des Instituts werden über den Täuschungsversuch informiert.“

Am Historischen Seminar sind Plagiatsfälle nach Angaben von Fachbereichssprecher Prof. Franklin Kopitzsch „seit langem nicht vorgekommen“. Auch er verweist auf die eidesstattliche Erklärung der Doktoranden, sich an die wissenschaftlichen Spielregeln zu halten. „Bei Seminar-Hausarbeiten kommt es vor, dass jemand sich große Teile aus dem Internet besorgt“, räumt Kopitzsch ein. Er erinnert sich an einen Fall, in dem das schnell durchschaubar war: „Da wurde aus ausländischen Zeitschriften zitiert, und ich wunderte mich, in welchem Umfang da wohl die Fernausleihe benutzt worden war. Ich habe dann entdeckt, dass ein schweizerischer Student die Vorlage dazu ins Netz gestellt hatte. Das war dilettantisch gemacht.“ Der Plagiator wurde zur Besprechung einbestellt, sei aber nie mehr erschienen.

Den bisher einzigen Fall eines schweren Plagiats an der Hamburger Uni entdeckte man 2008 in einer Doktorarbeit am Fachbereich Psychologie, 2009 wurde dem Verfasser der Doktortitel aberkannt. Fachbereichsreferentin Ute Lübke ist als eine von vier Ombudsleuten an der Uni dafür zuständig, solche Konflikte zu moderieren. Trotz des Präzedenzfalls gebe es keine obligatorische Überprüfung der Doktorarbeiten in Psychologie, sagt sie, „wir benutzen auch keine Software.“

Prof. Otto von Estorff, Vorsitzender des Promotionsausschusses an der TU Hamburg-Harburg, kann nicht von Plagiatsfällen berichten- „Wir haben an der TUHH im Schnitt 90 Promotionen pro Jahr, ich selbst betreue 15. Das ist ein ganz enges Arbeitsverhältnis. Ich lese die Dissertationen sehr gründlich durch, schon bevor sie eingereicht werden.“ Von Estorff kann sich nicht vorstellen, dass Plagiate an seinem Institut unentdeckt bleiben würden: „Unsere Doktoranden sind ingenieurwissenschaftliche Mitarbeiter, also Angestellte. Die Zusammenarbeit mit den Professoren ist sehr eng. Bei uns geht es um ganz harte Formeln, um Berechnungsverfahren für Akustik. Da kann sich jemand nicht mit schönen Formulierungen retten, die er irgendwo abgekupfert hat.“ Man habe an der TUHH einmal überlegt, ob man die Bachelor-und Diplomarbeiten mit einer Software überprüfen solle. Aber das sei nicht nötig: „Google tut es auch.“