Fleckig und porös: Etwa zehn Prozent aller Kinder leiden unter einer Mineralisations-Störung vor allem der Backenzähne

München. Die Milchzähne strahlen in gesundem Weiß, doch dann kommt der Schock: Fleckig und porös schieben sich die ersten bleibenden Backenzähne aus der Mundschleimhaut, bröckeln schon von Beginn an. „Die Zähne sind temperaturempfindlich, und das Zähneputzen schmerzt“, sagt Jan Kühnisch von der Universität München. „Die Ausprägung reicht vom kleinen gelbbraunen Fleck bis zu Oberflächeneinbrüchen schon direkt nach dem Durchstoßen.“ Etwa zehn Prozent der Kinder sind nach bisherigen Studien von der sogenannten MolarenInzisiven-Hypomineralisation (MIH) betroffen.

Die Störung macht Angst: Anders als Karies lässt sie sich nicht mit gründlicher Zahnpflege verhindern, auch Zucker- und Säurekonsum haben keinen Einfluss. „Bei Karies kommt der Zahn gesund heraus und wird dann beschädigt. Bei MIH entstehen die Schäden lange, bevor der Zahn durchbricht“, erklärt Zahnmediziner Kühnisch. Oft sind vor allem die Sechser-Molaren betroffen, die ersten bleibenden großen Backenzähne, die ungefähr im Alter von sechs Jahren hinter dem letzten Milchzahn durchbrechen. Aber auch an den bleibenden Frontzähnen sind die Hypomineralisationen oft sehr auffällig erkennbar.

Die Strukturstörung scheint ein Neuzeit-Phänomen zu sein. „Schädel aus vergangenen Jahrhunderten zeigen keine solchen Symptome„“ sagt Kühnisch. Allerdings sei auch möglich, dass das Phänomen in den vergangenen Jahrzehnten von der Karies-Problematik verdeckt wurde. Diese habe mit der verbesserten Zahnhygiene und Ernährung in den vergangenen vier Jahrzehnten zunehmend an Bedeutung verloren. Mädchen und Jungen sind gleich häufig betroffen, auch Unterschiede abhängig vom sozioökonomischen Status gibt es nicht.

Mitte der 1980er-Jahre wurde das Phänomen erstmals beschrieben, immer neue Hinweise von Zahnärzten weltweit kamen auf. „Mittlerweile wird jeder Zahnarzt in Deutschland quasi täglich mit solchen Schmelzstörungen konfrontiert“, sagt Kühnisch. „Nur noch zwei Drittel der Läsionen an den bleibenden Kinderzähnen gehen im Alter von zwölf Jahren auf Karies zurück, ein Drittel haben MIH als Ursache.“

Der Definition nach muss für die Diagnose MIH mindestens ein Backenzahn betroffen sein. „Mitunter sind aber nur die Front- oder andere Zähne betroffen“, sagt Kühnisch. In einer Studie seiner Gruppe mit Daten aus 2008 und 2009 hatten zehn Prozent der Zehn- bis Zwölfjährigen MIH-Symptome an Backen- und Schneidezähnen. „Oft waren das kariesfreie Kinder mit tadellosen Milchzähnen.“

Entsprechend entsetzt reagieren Eltern: Jahrelang wurde das Gebiss des Nachwuchses sorgsam gepflegt – und nun war alles umsonst. Warum? Auf diese drängende Frage haben Experten noch immer keine sichere Antwort. Fest steht lediglich, wann die Störung entsteht: fast immer in den ersten Lebensjahren. In dieser Zeitspanne mineralisieren die Sechser-Molaren, deren Knospen schon beim Embryo angelegt sind. Aus Calcium, Phosphat und weiteren Bestandteilen entsteht die härteste Substanz des menschlichen Körpers.

„Milchzähne härten mit unterschiedlichen Anteilen bereits im Mutterleib aus. Für die späteren bleibenden Zähne finden wir diese frühe Mineralisation aber nur bei den Sechser-Molaren im Bereich der Höckerspitzen“, erklärt der Kinder-Zahnmediziner Willi-Eckhard Wetzel, emeritierter Professor der Universität Gießen. „Bei den bleibenden Schneidezähnen setzt die Aushärtung dagegen erst mit drei bis fünf Monaten nach der Geburt ein.“ Mit dem Wissen um die Zahnentwicklung lasse sich der Zeitraum des schädlichen Einflusses für jeden MIH-Fall recht genau eingrenzen. Mitunter zeige der Zahn, dass die folgenreiche Einwirkung ganz plötzlich aufgehört haben muss. „Dann gibt es eine scharfe Trennlinie am Zahn“, so Wetzel, der sich viele Jahre lang mit dem Phänomen beschäftigt hat. „Erst hat sich fehlerhafter Schmelz gebildet, dann folgt gesunder.“

Ein ähnliches Phänomen sei von Frühgeburten und Geburten, bei denen das Baby unter Sauerstoffmangel stand, schon länger bekannt. „Diese sogenannte Neonatallinie sitzt an den Sechser-Molaren ganz weit oben.“ Bei den jungen MIH-Patienten sei der Übergang zwischen intaktem und schadhaftem Schmelz meist fließend. Gibt es aber klare Linien an den Sechser-Backenzähnen, lasse sich für das Kind auf Monate genau sagen, wann der Schaden verursacht wurde. „Warum hört der Einfluss bei manchen mit eineinhalb Jahren abrupt auf, bei vielen anderen hingegen nur fließend?“

Schon seit Jahren versuchen Forscher, den Ursachen der Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation auf die Spur zu kommen. Zu den „Verdächtigen“ zählen häufige Atemwegserkrankungen, die Einnahme von Antibiotika sowie Schadstoffe wie Dioxin in der Muttermilch oder Bisphenol A in Trinkflaschen und Schnullern. Vielfach wird ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren angenommen. Gegen einen Beitrag von Krankheiten spricht dabei allerdings, dass das Phänomen offenbar ein recht junges ist.

Mögliche Faktoren in rückblickenden Umfragen aufzuspüren sei nicht einfach, erklärt Wetzel. „Eltern erinnern sich erstaunlich schlecht an Krankheiten und verwendete Medikamente.“ Ergiebiger sei die Analyse der Daten von Kinderärzten. Studien seines Instituts ergaben demnach, dass es keine Unterschiede bei den Krankheiten von Kindern mit und ohne MIH gibt. Zwar hätten Kinder mit Fehlbildungen etwas häufiger Antibiotika bekommen, sagt Wetzel. Das erkläre aber nicht, wieso es sowohl abrupte als auch fließende Übergänge zwischen intaktem und schadhaftem Schmelz gebe.

„Was kann einem Eineinhalbjährigen abrupt abgewöhnt werden oder aber fließend?“, habe sich seine Forschergruppe gefragt. „Das Trinken aus Kunststoffflaschen, das Kauen und Nuckeln an Kunststoffspielzeugen oder der Schnuller natürlich.“ Eine Befragung von Eltern habe ergeben, dass MIH-Kinder im Mittel länger aus solchen Saugflaschen getrunken hatten. „Damit richtet sich das Augenmerk auf Weichmacher und andere schädliche Inhaltsstoffe.“ Das umstrittene Bisphenol A darf erst seit 2011 nicht mehr für Babyfläschchen verwendet werden – ob allein das schon einen Effekt auf die MIH-Häufigkeit hat, wird sich in einigen Jahren zeigen.

Austretende Substanzen in zum Teil schon rissigen öder spröden Kunststoffflaschen könnten nach Wetzels Ansicht auch erklären, warum in Einzelfällen noch weitere Zähne von MIH betroffen sind: „Manche Kinder trinken auch mit vier noch regelmäßig aus solchen Flaschen, sogar beim Einschlafen und nachts in Wachpausen.“ In einer Tierstudie hätten französische Forscher kürzlich gezeigt, dass Bisphenole einen Einfluss auf die Zahnentwicklung haben, ergänzt Kühnisch. „Das ist aber erst mal nur ein Hinweis.“

Er hält den Faktor Antibiotika für bedeutsam. „Antibiotika werden seit den 1970er-Jahren verstärkt von Kinderärzten eingesetzt“, erklärt der Mediziner. „Das erste Lebensjahrzehnt ist inzwischen das mit den meisten Antibiotika-Tagesdosen.“ Einer Auswertung seines Instituts zufolge gibt es einen Zusammenhang zwischen respiratorischen Krankheiten – bei denen oft Antibiotika eingesetzt werden – und der Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation.

Im Tierexperiment hätten verschiedene Antibiotika dazu geführt, dass die schmelzbildenden Zellen schneller Material bildeten – jedoch qualitativ minderwertiges. Allerdings gebe es auch Eltern von MIH-Kindern, die sich ganz sicher seien, dass ihr Nachwuchs als Kleinkind nie Antibiotika bekommen hat. „Das ist rückwirkend schwer zu klären“, sagt Kühnisch. „Im Prinzip ist die Ursachenforschung noch immer ein Tappen im Nebel.“

Und selbst wenn endlich ein bestimmter Grund gefunden sei, werde MIH nicht verschwinden, ist der Zahnmediziner Christian Splieth von der Universität Greifswald überzeugt. Für den Defekt der Schmelzbildung gelte wie bei Schädigungen der Haut- oder der Armbildung: Es gibt viele verschiedene Ursachen. Antibiotika hält auch er für einen möglichen Faktor. „Ich glaube auch, dass die bunte Plastikwelt mit ihren vielen organisch wirkenden Stoffen in unserer Umwelt empfindliche Wachstumsprozesse wie die Schmelzbildung beeinflusst.“

Vorstellbar sei auch ein Einfluss von Umweltgiften, ergänzt Splieth. „Wenn eine Frau mit 35 ihr erstes Kind bekommt, hat sie etliche Jahre lang Schadstoffe im Brustfettgewebe angesammelt, die nun in die Muttermilch abgeben werden.“ Sollte dies ein wichtiger MIH-Faktor sein, müssten zweite und dritte Kinder seltener von der Störung betroffen sein. „Es wäre interessant, das mal zu prüfen.“ Generell fehle es noch an aussagekräftigen Langzeitstudien.

Für die Eltern sind die bröselnden, käseweichen Zähne nach all der Mühe um ein gesundes Gebiss ein böser Schock, für die Kinder oft ein Problem für das ganze Leben – und für Zahnärzte eine immense Herausforderung. „Schmelzflecken an den Frontzähnen sind eher ein ästhetisches Problem, bei den Backenzähnen aber geht es um die Funktion“, sagt Kühnisch.

Bei Abbrüchen gebe es schon früh Behandlungsbedarf. Eine Restauration der Oberfläche sei aber nur bei etwa zehn Prozent der MIH-Zähne sofort notwendig. Noch viel seltener sei ein Zahn so porös, dass er gezogen werden müsse. Oft würden die Zähne zunächst überkront, um möglichst viel Zeit bis zu einer langfristigen Therapielösung zu gewinnen.

Ein zusätzliches Problem kann sein, dass Kinder schmerzende MIH-Zähne weniger putzen. „Das kann Karies zur Folge haben“, erklärt Kühnisch. Es wirkt absurd: In einer Zeit, in der immer mehr 80-Jährige noch alle ihre Zähne besitzen, zerbröseln die Backenzähne mancher Zehnjähriger bis zum Totalverlust.