Reduktion von Beifang: Rostocker Biologen entwickeln für Dorschfischerei in der Ostsee spezielle Konstruktion mit Fluchtwegen für Plattfische

Rostock. Ein Kutter rauscht durch die Ostsee, zieht ein Grundschleppnetz über den Meeresboden. Es erfasst kleine Schollen. In herkömmlichen Netzen wären sie dem Tode geweiht. Doch diese Fische hatten Glück, denn sie sind in ein Forschungsnetz geraten, das nach Auffassung von Experten Maßstäbe für die nachhaltige Fischerei setzt: Die Schollen werden von einer „Verkehrsinsel“ zu den Netzwänden abgelenkt und treffen dort auf große Öffnungen mit Querstangen, durch die die Plattfische in die Freiheit entkommen. Das zeigen Videoaufnahmen von Biologen des Thünen-Instituts für Ostseefischerei in Rostock. Das Netz mit Notausgängen für Schollen und Flundern soll den Dorschfischern in der Ostsee weniger Beifang bescheren – und einen Beitrag zum Meeresschutz liefern.

Seit Jahresbeginn schreibt das neue EU-Fischereirecht vor, dass Ostseefischer, die Dorschen, Heringen oder Sprotten nachstellen, auch diejenigen Fische anlanden müssen, die das Mindestmaß der jeweiligen Art nicht erreichen. Der sogenannte Beifang wird auf die jeweilige Fangquote angerechnet, doch erzielen sie für ihn nur deutlich niedrigere Preise. Die deutschen Dorschfischer haben ein zweites Problem: Ihre Fangquote für Schollen ist relativ klein. Deshalb können versehentlich mitgefangene und angelandete Schollen dazu führen, dass deren Quote schnell ausgeschöpft ist. Da die beiden Fischarten immer zusammen ins Netz gehen, heißt das, dass auch kein Dorsch mehr gefangen werden kann. Auch viele andere Plattfische sind unerwünscht, weil sie sich schwer vermarkten lassen.

„Anders als bei Schleppnetzen, die frei durch das Wasser gezogen werden und mit denen gezielt einzelne Schwarmfischarten gefangen werden können, landen bei Grundschleppnetzen verschiedene Bodenfischarten im Netz“, sagt Juan Santos vom Rostocker Institut. Die Artenzusammensetzung variiert sehr stark unter den einzelnen Fängen. Nach einem Bericht der EU-Kommission versammeln sich in den Netzen der Dorschfischer im Fanggebiet Westliche Ostsee im Schnitt etwa zur Hälfte Dorsch, rund ein Drittel Flundern (für die es in der Ostsee keine Fangquote gibt), unter zehn Prozent Schollen, ähnlich viele Klieschen (ebenfalls ein Plattfisch) und wenige Prozent andere Arten.

Das starre Fluchtfenster für Plattfische gab dem neuen Netz seinen Namen

Herkömmliche Netze lassen zwar kleine Dorsche durch die zwölf Zentimeter weiten Maschen entfleuchen, nicht aber die Plattfische, die nicht durch die Maschen passen. Dadurch werden sie versehentlich mitgefangen und erhöhen außerdem den Beifang von Jungdorschen, da die platten Fischkörper wie lebende Pflaster viele Maschen verschließen. Zusammen mit internationalen Kollegen haben die Rostocker Forscher nun das neue Netz entwickelt, das Plattfische entkommen lässt. Sein Namen: Freswind (Flatfish Rigid EScape WINDows, Starre Fluchtfenster für Plattfische).

Zunächst bauten die Fischereibiologen starre, waagerecht angeordnete Fluchtgitter in ein Grundschleppnetz ein und testeten es auf einer Fahrt mit ihrem Forschungsschiff „Clupea“. Ergebnis: Die Plattfische hätten zwar durch die Gitterstäbe gepasst, doch Videoaufnahmen zeigten, dass die Fische am Notausstieg vorbeischwammen und weiterhin im hinteren Teil des Netzes, dem Steert, landeten.

Auf Basis der Unterwasserbeobachtungen tüftelten die Wissenschaftler danach eine kompliziertere Konstruktion aus: Die Notausgänge mit den Gitterstäben stellten sie etwas schräg, rückten sie in einem 45-Grad-Winkel ins Netz ein. Kurz vor den Gitter-Fenstern installierten sie in der Netzmitte ein Hindernis, das die Fische auf den Notausstieg zuschwimmen lässt.

Die neue Konstruktion erwies sich bei weiteren Testfahrten auf der „Clupea“ und auf einem kommerziellen Kutter als voller Erfolg: Die Schollen schwimmen in den Videoaufnahmen direkt auf ihre Ausgänge zu und überlassen das Netz den Dorschen. „Bei unseren Testfahrten sank der Beifang von kleinen Schollen um 66 Prozent, der von großen Schollen um 54 Prozent“, sagt Juan Santos. „Zudem hatten wir 32 Prozent weniger Jungdorsche im Netz. Gleichzeitig ist der Verlust an vermarktbaren Dorschen sehr gering.“ Das neue Netz sei recht gut handhabbar, denn es könne wie ein normales Grundschleppnetz auf die Netztrommel aufgerollt werden, sagt Santos. Erste Fischer hätten sich gemeldet, um das Netz zu testen – in Kürze sollen Langzeittests auf kommerziellen Kuttern beginnen, sagt der Spanier, der vor zwei Jahren aus Vigo von der Atlantikküste an die Ostsee wechselte. Santos: „Wir präsentieren Freswind auch auf internationalen Konferenzen. US-Kollegen wollen das Netz nun zum Schellfischfang an der Ostküste der USA testen.“

Und natürlich sei es auch beim Kabeljaufang in der Nordsee einsetzbar – der Nordsee-Kabeljau und der Ostsee-Dorsch gehören zu unterschiedlichen Beständen derselben Fischart.

Schon heute sei der Beifang in der Schleppnetzfischerei recht niedrig, liege unter zehn Prozent, sagt Dr. Uwe Krumme, der die Fischereidatenerhebung am Rostocker Institut leitet. Meist seien es Dorsche, die das gesetzliche Mindestmaß von 38 Zentimeter nur knapp verfehlen. Sie wurden bislang zurück ins Meer geworfen, jetzt müssen sie angelandet werden. Gleichzeitig wurde das Mindestmaß auf 35 Zentimeter gesenkt, sodass jetzt auch ein angelandeter 36-Zentimeter-Fisch zum höheren Dorsch-Marktpreis vermarktet werden kann und nicht als Beifang verramscht werden muss.

Dennoch lohne sich der Einsatz des selektiven Freswind-Netzes, betont der Biologe, um den Fang zu kleiner Dorsche und den Mitfang von Schollen und anderen Plattfischen zu vermeiden. Allerdings müsse die Einhaltung des Rückwurfverbotes auf dem Meer streng überwacht werden, so Krumme: „Kontrolle ist das A und O zur Durchsetzung der neuen Regeln.“

Die Ostsee sei das erste Meeresgebiet der EU, in dem die Fischer ihren Beifang anlanden müssen, sagt Santos. „Es ist eine Art Laboratorium, in dem wir testen, wie die EU-Regularien am besten umzusetzen sind. Hier gibt es bereits viele Untersuchungen, wie sich gemischte Fischereien, in denen mehrere Arten in die Netze gehen, möglichst selektiv durchführen lassen. In den vergangenen 20, 30 Jahren sind dazu viele Versuche unternommen worden – mal mehr, mal weniger erfolgreich. Zur Vermeidung von Plattfisch-Beifang in Schleppnetzen ist das Freswind jetzt wirklich ein Durchbruch.“

Freswind ist aus Sicht der Forscher schon eine gute Lösung, doch ist ihnen das Netz noch zu kompliziert in der Handhabe – und damit zu teuer. Deshalb arbeiten sie an einer abgespeckten, preiswerteren Version namens Flex (FLatfisch EXcluder, Plattfischvermeider). Santos: „Das Netz versucht, die Verhaltensunterschiede von Plattfischen und Dorschen zu nutzen. Schollen oder Flundern streben im Netz nach unten, denn sie sind darauf programmiert, sich bei der Flucht vor Feinden in den Sand einzugraben – ihre Rückenfärbung lässt sie optisch auf dem Meeresboden verschwinden. Dorsche schwimmen im Netz nach oben, so erfolgt die Trennung.“

Das Flex-Netz hat unten eine flache Öffnung, durch die Plattfische entkommen können. „Wir haben es inzwischen so konstruiert, dass die Plattfische dort gerne durchschwimmen. Aber leider auch noch einige Dorsche. Wir müssen die Konstruktion also noch etwas nachbessern.“

Das Video, das das Netz in Aktion zeigt: www.abendblatt.de/wissen