Der Skandal um gefälschte Zulassungsstudien für Medikamente zieht immer weitere Kreise. Nun drohen erste Rückrufe.

Berlin. Hans Rudolf Diefenbach ist gerne Apotheker. In seiner Rosen-Apotheke in Offenbach berät er seit mehr als 30 Jahren seine Kunden über die Risiken und Nebenwirkungen von Medikamenten. Doch ein solches Chaos wie jetzt hat der 64-Jährige selten erlebt. „Die Behörden haben in vielerlei Hinsicht versagt, die Patienten sind verunsichert und verärgert – und wir Apotheker wurden mit dem Problem mal wieder allein gelassen“, sagt er.

Der Grund für den Ärger sitzt im indischen Hyderabad. Das Unternehmen GVK Biosciences soll dort in den Jahren 2008 bis 2014 Daten in insgesamt neun Zulassungsstudien gefälscht haben. Die Manipulationen – konkret geht es um auffällige Elektrokardiogramme von Probanden – hätten kritische Mängel bei GVK aufgezeigt und dadurch auch die Glaubwürdigkeit aller anderen Studien des Unternehmens infrage gestellt, urteilten die Prüfer der europäischen Arzneimittelagentur EMA. Sie prüfen den Fall bereits seit September. Die Rede ist von rund 1250 Zulassungen, die potenziell betroffen sein könnten. Eine genaue Liste will die Behörde allerdings erst Ende Januar vorlegen, wenn alle Prüfungen abgeschlossen sind. In Deutschland eskaliert der Vorfall offenbar schon jetzt: Dem Vernehmen nach könnte es bei einigen Präparaten sogar zum vorsorglichen Rückruf kommen.

Wie gut ist es um die Herstellung und Kontrolle vieler Medikamente bestellt? Reichen die vorhandenen Kontrollen aus? Und kann man noch ruhigen Gewissens seine Pillen schlucken, wenn sogar bei der sensiblen Zulassung von Medikamenten womöglich getrickst und getäuscht wird? Man kann – und man soll sogar, sagen zumindest die Arzneimittelaufseher. Sie warnen davor, die betroffenen Medikamente einfach abzusetzen. Und sie betonen, dass sich die Manipulationen nach bisheriger Kenntnis nur auf Details in der Dokumentation von Studien beziehen, nicht auf die Testergebnisse selbst. An der Sicherheit und Wirksamkeit der Wirkstoffe gebe es keinen Zweifel.

Gerd Antes, Direktor des Deutschen Cochrane Zentrums in Freiburg, mag diese Zuversicht nicht so recht teilen. „Gerade die Details der Dokumentation bieten eine Fülle von Manipulationsmöglichkeiten und verfälschen damit die Testergebnisse“, sagt er. „Wenn Studien manipuliert werden, zeugt das von einer großen Respektlosigkeit gegenüber den Patienten. Schädigungen oder auch mangelnde Wirksamkeit werden dadurch billigend in Kauf genommen. Und die meisten Kontrollbehörden haben schon aufgrund ihrer personellen Ausstattung gar nicht die Möglichkeit, das alles zu überwachen und Auswüchse rechtzeitig zu erkennen und zu verhindern“, warnt der Experte.

Zumal sich die Behörden untereinander über das weitere Vorgehen offenbar nicht so ganz einig sind. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) etwa preschte in der vergangenen Woche vor und stellte als erste europäische Behörde 80 Medikamente in Deutschland ruhend. Das bedeutet: Diese Arzneien, darunter auch Blutdrucksenker, Immunsuppressiva und Psychopharmaka, dürfen von den Herstellern zunächst nicht mehr ausgeliefert und von den Apotheken nicht mehr abgegeben werden. Einen Stopp für so viele Zulassungen gleichzeitig – das gab es hierzulande noch nie.

Zuvor hatten bereits die Prüfer der französischen Arzneimittelbehörde ANSM angekündigt, ab 18. Dezember 25 Arzneien aus dem Verkehr ziehen zu wollen. Belgien und Luxemburg folgten. Andere Aufsichtsbehörden sehen den Vorfall hingegen gelassener. Die britische Arzneimittelbehörde MHRA will erst das Urteil der europäischen Aufsichtsbehörde EMA abwarten, bevor sie überhaupt tätig wird. Welche der europäischen Behörden hat nun recht? War das Vorgehen der Deutschen und Franzosen zu voreilig? Oder sind es die britischen Prüfer, die leichtfertig die Gesundheit ihrer Landsleute riskieren, indem sie erst einmal abwarten?

Selbst Branchenkenner wollen sich darüber vorerst kein Urteil erlauben. Zumal bislang offenbar noch nicht einmal feststeht, ob ausschließlich Generika (wirkstoffgleiche Kopien eines bereits unter einem Markennamen auf dem Markt befindlichen Medikaments) betroffen sind. Oder ob es womöglich auch bei Studien für Originalpräparate Tricksereien gab. Die EMA jedenfalls kontrolliert derzeit alle fraglichen Studien des indischen Dienstleisters. Sollte sich herausstellen, dass bei Originalpräparaten geschummelt wurde, würde das den Skandal in eine noch viel größere Dimension katapultieren. Denn Generika oder Nachahmerprodukte verwenden Wirkstoffe, deren Patentschutz nach zehn oder 15 Jahren abgelaufen ist und für die naturgemäß längst viele Daten aus der Anwendung vorliegen. Bei diesen Mitteln muss lediglich im Rahmen von sogenannten Bioäquivalenzstudien nachgewiesen werden, dass sie genauso wirken wie das Original. Bei neuen Medikamenten liegen solche langen Erfahrungsreihen hingegen noch nicht vor. Ihre Wirksamkeit und Verträglichkeit muss daher aufwendig und gewissenhaft getestet werden.

Doch auch bei den Generika ist die Lage schon kompliziert genug. Nach dem Bescheid über das Ruhen der Zulassung legten einige Hersteller Widerspruch ein, darunter Heumann Pharma, Panacea Biotec und Betapharm Arzneimittel. In einigen Fällen gab das BfArM dem statt, etwa weil die Unternehmen ergänzende Studien zur Bioäquivalenz vorlegen konnten. In anderen Fällen sei ein „Ruhen der Zulassung derzeit nicht vollziehbar“, wie es auf der täglich aktualisierten Liste der Behörde heißt, da die Unternehmen Rechtsmittel eingelegt hätten. Sprich, diese Arzneien bleiben bis auf Weiteres verfügbar. Den vom Ruhen der Zulassung oder womöglich sogar von etwaigen Rückrufen betroffenen Unternehmen drohen teilweise erhebliche Umsatzausfälle. „Nach der Entscheidung des BfArM ruht die Zulassung, bis die Unternehmen neue Studien zur Wirksamkeit ihrer Medikamente vorlegen können. Das kann bis zu 15 Monate dauern“, sagt Gesundheitsökonomin Annika Herr von der Universität Düsseldorf. Als Konsequenz sei damit zu rechnen, dass die Pharmabranche ihre Kontrollen bei den weltweiten Studiendienstleistern verschärfen werde.

Vor allem für die Apotheken und Patienten ist das Hin und Her der vergangenen Tage ein Albtraum – zumal zum Teil auch Rabattmedikamente der Kassen betroffen sind, für die Apotheker nicht ohne Weiteres Alternativmedikamente ausgeben können. Zwar haben sich die Spitzenverbände von Kassen und Pharmazeuten mittlerweile auf eine Übergangslösung geeinigt – doch spätestens, wenn die EMA die Mängelliste im Januar vorlegt, droht erneut Chaos.

Ausgestanden ist die Sache damit längst noch nicht. Die Branche muss sich viele unangenehme Fragen gefallen lassen. Zum Beispiel danach, wie vertrauenswürdig die Zulassungsstudien der vielen anderen kleinen und großen Anbieter aus Indien, China und Weißrussland wirklich sind. Und wie viel den Pharmakonzernen, den Gesundheitssystemen und damit der Bevölkerung die Sicherheit und Qualität ihrer Medikamente wert sind. Gerd Antes ist da skeptisch: „An dem Fehler im System ist auch die Gesellschaft schuld. Wir betonen immer, dass Gesundheit unser wichtigstes Gut ist. Und sind dann nicht bereit, dafür genug Geld auszugeben.“

An Ratschlägen, wie das System zu verbessern wäre, mangelt es nicht. Der Bremer Gesundheitsökonom Gerd Glaeske etwa warnt davor, wesentliche Studien den Herstellern allein zu überlassen und fordert unabhängige Kontrollen. „Der aktuelle Vorfall ist letztlich eine Konsequenz aus der fortgeschrittenen Globalisierung im Bereich der Entwicklung und Produktion von Arzneimitteln. Diese Globalisierung hat eine neue Unübersichtlichkeit geschaffen“, ließ der Präsident des Apothekerverbandes, Friedemann Schmidt, wissen. Eine Konsequenz aus dem Vorfall müsse sein, dass die Kontrollmöglichkeiten für Behörden und verantwortliche Stellen verbessert würden.

Tatsächlich plant das BfArM für 2015, die Zahl der Prüfer zu erhöhen. Der Bereich solle weiter gestärkt werden, kündigte BfArM-Präsident Karl Broich an. Das ist auch bitter nötig: Derzeit verfügen Deutschlands oberste Medizinwächter über gerade einmal drei weltweit tätige Kontrolleure.