Nach neuem Forschungsbericht lädt Akademie der Wissenschaften in Hamburg zu prominent besetzter öffentlicher Gesprächsrunde ein

Hamburg. Wie weit kann es der Mensch bringen? Welche Rolle spielt dabei die Förderung, die ihm von Kindesbeinen an zuteil wird? Zumindest in der Öffentlichkeit dominierten immer noch zwei Haltungen, sagt Frank Rösler, Professor für Neuropsychologie an der Universität Hamburg. „Die einen meinen, durch die Gene sei alles festgelegt, die anderen denken, es hänge nur von der Umwelt ab und prinzipiell sei alles machbar.“ Um mit diesen Mythen aufzuräumen, haben Rösler und 14 weitere Wissenschaftler aus den Disziplinen Neurobiologie, Linguistik, Pädagogik, Soziologie und Ökonomie unter der Federführung der Nationalakademie Leopoldina einen 120-seitigen Bericht über „Frühkindliche Sozialisation“ erarbeitet. In der vor Kurzem in Berlin präsentierten Stellungnahme weisen sie darauf hin, dass es enge Wechselwirkungen zwischen Erbanlagen und der Umwelt gibt und insbesondere Prägungen in den ersten Lebensjahren die Entwicklung eines Menschen nachhaltig beeinflussen, wie aktuelle Studien gezeigt haben.

Deutschland müsse mehr in die Bildung kleiner Kinder investieren, so die Forderung der Leopoldina und weiterer Wissenschaftsakademien. Es gebe „kritische Zeitfenster“. Was Kinder bis zur Einschulung nicht lernten, lasse sich später nur bedingt nachholen.

Nächste Woche Mittwoch dient der Bericht als Grundlage für eine öffentliche Podiumsdiskussion in Hamburg, die von der Akademie der Wissenschaften ausgerichtet wird. Zu den Teilnehmern zählen neben Frank Rösler die Hamburger Neuropsychologin Brigitte Röder, die in diesem Jahr den Leibniz-Preis erhielt, die wichtigste Auszeichnung für deutsche Forscher, Dieter Lenzen, Präsident der Uni Hamburg, Detlef Scheele, Senator für Arbeit, Soziales und Familie, sowie Angelika Kempfert, Staatsrätin a.D.

Die Forderungen der Wissenschaftsakademien haben nichts mit einem Phänomen zu tun, das Buchautoren wie Herbert Renz-Polster („Die Kindheit ist unantastbar“) als „Frühförderungwahn“ bezeichnen: das Bestreben, Kindern in jeder freien Minute jede denkbare Förderung angedeihen zu lassen, vom Musik- und Sprachunterricht bis hin zu naturwissenschaftlichen Experimenten. „Kinder, die in stabilen, bildungsorientierten Familien aufwachsen, bekommen meist genug Anregungen“, sagt Frank Rösler. „Hier ist es manchmal sogar so, dass Eltern es mit der Förderung übertreiben.“

Ein größerer Förderbedarf als bisher bestehe vielmehr bei bildungsfernen Familien und solchen, in denen Deutsch nicht als Muttersprache gesprochen wird. „Wenn ein Kind nicht spätestens bis zum vierten Lebensjahr Deutsch lernt, wird es die Sprache sehr wahrscheinlich nie einwandfrei sprechen. Sprache ist aber die Grundvoraussetzung für den späteren Lebenserfolg, also etwa für Erfolg im Beruf, das Einkommen und für physische und psychische Gesundheit.“

Mit Blick auf die jüngsten Forschungsergebnisse zur frühkindlichen Sozialisation fordert das Team um Rösler beispielsweise, dass mehr Kinder, insbesondere aus bildungsfernen Familien, Kitas und Kindergärten besuchen. Die Gruppen dort sollten kleiner sein, und wenn Mitarbeiter auf Defizite stoßen, sollten sie entsprechend handeln. Dazu müsse in der Ausbildung von Kita-Personal und Erziehern mehr Wissen über die geistige und emotionale Entwicklung von Kindern vermittelt werden, so die Experten.

„Was Hänschen nicht lernt ...?“, Podiumsdiskussion, 3.12., 19 Uhr, Baseler Hof Säle, Esplanade 15. Um Anmeldung wird gebeten unter www.awhamburg.de/veranstaltungen oder telefonisch unter 040/42 94 86 69 12. Der Forschungsbericht steht zum Download bereit unter: www.leopoldina.org/de/sozialisation