Der Hamburger Chirurg Johannes Pietschmann arbeitet für Ärzte ohne Grenzen in Kriegs- und Krisengebieten

Hamburg. In Westafrika fordert die Ebola-Infektion immer mehr Opfer. Mehr als 4500 Erkrankte sind bereits gestorben, mehr als 9200 Infektionen wurden bisher registriert. Um die Epidemie einzudämmen und die Kranken zu versorgen, brauchen die betroffenen Länder dringend Hilfe von außen. Die Organisation Ärzte ohne Grenzen, nach ihrem Gründungsland Frankreich auch unter der Abkürzung MSF (Médecins sans frontières) bekannt, ist bereits seit März mit mehr als 3000 Mitarbeitern in den Ebola-Gebieten, um den Menschen dort zu helfen.

Doch Westafrika ist nicht das einzige Einsatzgebiet der Organisation. In rund 60 Ländern weltweit sind Teams von MSF im Einsatz. Auch die Menschen, die für MSF arbeiten, kommen aus allen Ländern. Einer von ihnen ist der Hamburger Arzt Dr. Johannes Pietschmann. Der 68 Jahre alte Chirurg ist seit drei Jahren für MSF unterwegs. Ein bis zweimal pro Jahr fährt der Arzt, der noch dreimal in der Woche in einer chirurgischen Praxis arbeitet, für mehrere Wochen in die Krisengebiete dieser Welt, um dort Kranke und Verletzte zu behandeln. „Ich war bisher in Libyen, Nigeria, in Gaza, im Jemen und zuletzt, im Frühjahr dieses Jahres, im Südsudan. Die meisten Einsätze dauern vier Wochen“, erzählt Pietschmann.

Auch in den Krisengebieten arbeitet er ausschließlich als Chirurg. Welche Bedingungen er an seinen Einsatzorten vorfindet, weiß er vorher nicht. Die Größe der Teams ist sehr unterschiedlich. Dazu gehören nicht nur Ärzte wie Chirurgen, Allgemeinmediziner, Anästhesisten und Gynäkologen, sondern auch Krankenschwestern, Logistiker, die Material und Versorgungsstrukturen organisieren sowie eine Projektleitung, unter Umständen auch Hebammen, Psychologen, Ingenieure, Physiotherapeuten und Röntgenassistenten. „Und ohne zahlreiche lokale Mitarbeiter, die als medizinische Fachkräfte oder in anderen Funktionen ihre Landes- und Menschenkenntnisse, ihre kulturelle Identität – nicht zuletzt auch als Dolmetscher – einbringen, wären die meisten Projekte nicht möglich“, sagt der Chirurg. Die Ausstattung der Projekte kann sehr unterschiedlich sein. „Wenn die Hilfsprojekte schon länger existieren, sind sie meist gut ausgerüstet. Doch in kurzfristig angesetzten Notfallmissionen ist das nicht immer der Fall. Dann bin ich stärker als hier in Deutschland auf meine fünf Sinne angewiesen. Da bekommt die körperliche Untersuchung eine entscheidende Bedeutung“, sagt Pietschmann. Zunächst gilt es herauszufinden, was genau passiert ist. Dann folgt eine gründliche Untersuchung und die Therapie. Das alles ist für die Patienten kostenlos.

Am häufigsten musste Pietschmann bisher Knochenbrüche und Schussverletzungen versorgen – Folgen von Gewalt. Denn seine Einsatzorte waren immer aktuelle oder ehemalige Kampfgebiete. „In Libyen waren wir eingeschlossen von Gaddafi-Truppen in der Stadt Misrata, die in der Hand der Rebellen war. Dort wurde lebhaft gekämpft, sodass wir Kanonen und Gewehre gehört haben. Gelegentlich hat auch mal etwas in nächster Nähe eingeschlagen“, erzählt Pietschmann.

Das erschwert auch die Versorgung der Patienten. „Weil sie Angst haben, unter Beschuss zu geraten, kommen viele Patienten leider nicht sofort zu uns. Diese Verzögerungen führen dazu, dass sich bei vielen die Wunden bereits infiziert haben.“ Die häufigsten Verletzungen, die Pietschmann behandelt, sind infizierte Knochenbrüche nach Schussverletzungen. Denn diese Verletzung hinterlässt zerfetztes Gewebe, das einen idealen Nährboden für Bakterien bildet. „Wenn die Infektion auf den Knochen übergegriffen hat, müssen wir die abgestorbenen Knochensplitter entfernen und möglicherweise auch einen größeren Defekt im Knochen wieder schließen, sodass sich die Behandlung dann sehr lange hinzieht.“

Mit konsequenten Sicherheitsbestimmungen will MSF in solchen Situationen seine Mitarbeiter schützen. „Das heißt, dass man sich, wenn die Lage unsicher ist, nicht ohne Not außerhalb der Unterkunft oder Arbeitsstätte bewegt. Das Krankenhaus ist abgesichert, sodass nur diejenigen hineinkommen, die dafür einen vernünftigen Grund haben. Und in der Regel fährt man zwischen Unterkunft und Arbeitsstätte mit dem Auto hin und her“, sagt Pietschmann.

Der Dienst beginnt meistens um acht Uhr morgens und dauert bis zum Nachmittag. „Bei dem Einsatz in Nigeria waren wir aber oft bis abends um acht im Krankenhaus, weil es dort viele Verletzte durch Verkehrsunfälle gab. Und wenn nachts ein Frischverletzter kam, ging man eben noch hin.“

Sein bislang schwierigster Einsatz war im Südsudan. „Dort haben wir in der Nähe eines Lagers gearbeitet, in dem 15.000 Menschen in Zelten untergebracht waren, die nicht temperiert waren und in denen es kaum Betten gab. Die Menschen konnten nicht ausreichend versorgt werden und waren nicht gegen die Kampfhandlungen geschützt“, sagt der Hamburger Chirurg. Zustände, die auch den Helfern zu schaffen machen. „Wenn man schlimme Verletzungen sieht und massenhaftes Elend, geht das nicht spurlos an einem vorbei. Wir sprechen dann untereinander viel über das, was wir dort sehen.“

Das MSF-Team war im Südsudan in einem Uno-Lager untergebracht. „Es war von Soldaten gesichert, die die Kampfhandlungen beobachteten. Wenn sie zu nah kamen, gingen wir in den Schutzraum und haben abgewartet, bis es aufhörte, und haben dann weitergearbeitet“, sagt Pietschmann. Das Lager selbst wurde von den Kämpfen verschont. „Wir waren ja nicht das Ziel.“ In solchen Konflikten verhält MSF sich streng neutral. Nach dem Leitbild „müssen die in den Genfer Konventionen festgelegten Prinzipien der Unparteilichkeit, Unabhängigkeit und Neutralität befolgt werden“. Das bedeutet nicht nur strenge Neutralität in Konflikten zwischen zwei politischen Lagern, sondern auch Unabhängigkeit von politischen Vorgaben, militärischen Verbänden und staatlichen Geldern. Finanziert wird die Arbeit von MSF zum größten Teil über Spenden. Deren Anteil an den Gesamteinnahmen betrug 2013 mit 82,1 Millionen Euro rund 92 Prozent. Wenn eine Krise ausbricht, schickt MSF ein kleines Team auf Erkundungstour, das anhand bestimmter Kriterien den Hilfebedarf feststellt.

Wer bei MSF mitarbeiten möchte, kann sich dort bewerben. Wer Bewerbungsgespräch und eventuelle fachliche Tests erfolgreich besteht, wird in einen Pool aufgenommen. Wenn ein passendes Projekt gefunden ist, wird der Bewerber über seine Aufgaben informiert und erhält die nötigen Reisedokumente. Jeder Mitarbeiter nimmt vor seiner Abreise an einem einwöchigen Vorbereitungskurs teil. Für die Dauer des Einsatzes wird zwischen dem Helfer und MSF ein befristeter Arbeitsvertrag geschlossen. Zur Deckung der laufenden Kosten in Deutschland wird eine Aufwandsentschädigung gezahlt. Außerdem übernimmt die Organisation die Reisekosten sowie Unterkunft und Verpflegung vor Ort. Weltweit sind für MSF 30.000 einheimische und 2600 internationale Mitarbeiter im Einsatz.

Vor den Gefahren hat Pietschmann keine Angst. „Freunde und Verwandte haben mich vor mehreren Einsätzen schärfstens gewarnt, aber ich bin trotzdem gefahren.“ Für den kommenden Januar hat der Chirurg sich bereits für einen Einsatz bei MSF angemeldet. „Aber wohin die Reise geht, weiß ich noch nicht.“