Wissenschaftler Professor Knut Haase kümmert sich um Menschenströme wie die rund drei Millionen Muslime, die jedes Jahr nach Mekka pilgern. 1990 wurden dabei 1400 Menschen zu Tode getrampelt

Jahr für Jahr brechen im letzten Monat des islamischen Mondkalenders bis zu drei Millionen Muslime ins saudi-arabische Mekka auf. In diesem Jahr startete Anfang Oktober die große Pilgerreise, der sogenannte Hadsch. Während dabei Ströme von Gläubigen in der Hitze die Dschamarat-Brücke überfluten, sitzt Knut Haase, Professor für Verkehrswirtschaft an der Uni Hamburg, für gewöhnlich nicht weit entfernt in einem klimatisierten Planungszentrum und verfolgt das Treiben am Bildschirm.

Ins Schwitzen kommt der Wissenschaftler trotzdem schon mal, denn seine Gedanken gelten dem sicheren Ablauf der Wallfahrt. In einem internationalen Expertenteam kümmert er sich um die Planung der Menschenströme vor Ort. Genauer: 1,8 Millionen registrierte Pilger, die mit Hadsch-Reiseveranstaltern kommen und nochmals gut eine Million unregistrierte Pilger. Letztere machen den Unsicherheitsfaktor aus und fließen in die Berechnungen durch eine Verringerung der angenommenen Kapazität ein.

„Der Hadsch ist das größte jährlich auftretende Fußgängerproblem der Welt“, sagt der BWL-Professor. Nirgendwo sonst drängen sich jedes Jahr so viele Menschen auf so engem Raum. Für eine zehn Meter breite Straße etwa rechnet Haase mit rund 35.000 Gläubigen pro Stunde. In solchen Massenaufläufen eskaliert eine Panik schnell und führte in der Vergangenheit immer wieder zu Katastrophen mit Toten.

Haases Fokus liegt auf dem Dschamarat Platz und der Brücke. Durch Öffnungen des inzwischen fünfstöckigen Bauwerks führen die Gläubigen mehrere symbolische Steinigungen des Teufels durch – das Ritual gilt als besonders gefährlich für die Pilger. Seitdem das Expertenteam vor Ort agiert, gab es jedoch keine gravierenden Unfälle mehr.

Neben dem Hadsch beschäftigt sich Haase mit weniger exotischen Themen wie der Planung von ÖPNV-Tarifzonen oder von Schulstandorten. Dabei zeigen sich allerdings durchaus Parallelen zu dem Projekt in Saudi-Arabien. „Diskrete Auswahlfunktionen, die Berechnung von Nutzenfunktionen und Einflusskomponenten unter dem Einbeziehen von unbewusstem Verhalten – mit diesem Werkzeug arbeite ich auch sonst“, sagt der gebürtige Lübecker. Entscheidungen von Individuen und damit verbundenen Unsicherheiten im Verhalten, Motive und psychologische Komponenten spielen ebenso meist eine wichtige Rolle.

Zu dem Forschungsprojekt kam Haase vor gut neun Jahren über seinen Kollegen Dirk Helbing, Physiker und Professor für Soziologie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich. Wie Haase lehrte dieser damals an der Technischen Universität Dresden, als er einen Antrag für das Projekt an die Deutsche Forschungsgemeinschaft stellte. Das saudische Ministerium für Bau- und Stadtentwicklung wurde aufmerksam und kontaktierte die Wissenschaftler aus Deutschland. Kosteten doch Massenpaniken zuvor immer wieder zahlreiche Pilger das Leben. Crowd disasters – so der Fachbegriff für das, was Mekka lange Zeit alle zwei Jahre erschütterte: Im Jahre 1990 wurden mehr als 1400 Menschen erdrückt und zu Tode getrampelt, 270 Tote im Jahr 1994, 364 im Jahr 2006. Solche Eskalationen lassen sich vorher sogar am Bildschirm erkennen, „dann kippt der gleichmäßige Fluss der Menge in ein Schwanken um“, sagt Haase.

Kamerabasierte Frühwarnsysteme wurden entwickelt, die bereits erste Turbulenzen orten, um die Katastrophe – sofern noch möglich – durch rasches Eingreifen zu verhindern.

Um bereits im Vorwege das Chaos in geordnete Bahnen zu lenken, haben Haase und seine Mitstreiter einen Stundenplan aufgestellt, der Aufbruchszeiten und Wege der Gruppen vorgibt. Was einfach klingt, kommt einer logistischen Herkulesaufgabe gleich: Mithilfe eines mathematischen Modells weist er 7000 Gruppen mit 250 Pilgern Routen und einen Zeitpunkt für das Steinigungsritual zu. „Für unser Optimierungsproblem gab es über eine Million Variablen“, sagt Haase. Sein Modell berücksichtigt die Präferenzen der Pilger und die Kapazitäten der Ressourcen wie Straßen sowie Rampen und Etagen der Dschamarat-Brücke.

Erstmals wurde in diesem Jahr eine App für Smartphones eingesetzt

Als Basis wurden Daten zur Verteilung der Pilger gesammelt und die Distanzen zwischen den rund 800 Camps und dem Dschamarat-Platz kalkuliert. Dafür fragte das Team zum Beispiel Strecken und Wunschtermine ab und versuchte, sich diesen möglichst anzunähern. „Die Erhebung der Datengrundlage ist sehr aufwendig und muss größtenteils immer wieder neu durchgeführt werden“, sagt Haase. Schon weil die baulichen Erweiterungen der Brücke jedes Jahr einige Routen der Pilger ändern. Eine weitere Herausforderung: Die Zuordnung von Camps auf die Stationen der vor drei Jahren errichteten Makkah Metro. Sie befördert um die 80.000 Pilger pro Stunde. „Wir müssen den Strom der Menschen so mit den Abfahrtzeiten der Züge synchronisieren, dass eine gleichmäßige Auslastung ohne Warteschlangen entsteht“, sagt Haase. Die Pilger tragen am Handgelenk ihre Fahrkarten, ausgestattet mit einem RFID-Code, der beim Passieren der elektronischen Gates mittels elektromagnetischer Wellen gelesen wird. Die Nummern der Karten werden dann sofort an eine Datenbank weitergeleitet. „Parallel wertet unser Team den Menschenfluss visuell aus“, sagt Haase.

Inzwischen haben die Forscher ein Einbahnstraßensystem in unmittelbarer Umgebung des Dschamarat-Platzes installiert. Routen dürfen sich nicht kreuzen, die Ströme nur in eine Richtung laufen. „Vorher kamen die Pilger völlig ungeordnet zur Dschamarat-Brücke und verteilten sich in unterschiedliche Richtungen“, sagt Haase. Jetzt achtet sein Team darauf, dass stets weniger Menschen das Bauwerk betreten als es verlassen, um einen Rückstau zu vermeiden. Jeder hin- und wegführenden Straße wurde pro Stunde eine entsprechende Kapazität zugeordnet. Zäune begrenzen jetzt die Wege und halten sie schmaler, um die Massen einzudämmen sowie Gegenverkehr und Abkürzungen zu verhindern. Zudem entwickelte man Notfallpläne mit möglichen Umleitungen der Ströme für eine Vielzahl von Szenarien.

Um den Hadsch künftig noch sicherer zu machen, wurde in diesem Jahr erstmals eine App für Smartphones eingesetzt, mit der Helfer in den Camps den Aufbruch dokumentierten. Auch eine GPS-Ortung ist in Planung. Zudem soll eine Visualisierung der Abläufe auf einer elektronischen Karte einen schnelleren Überblick gewährleisten. „100 Prozent Sicherheit können wir nie erreichen, aber wir versuchen uns dem durch ständige Verbesserungen anzunähern“, sagt Haase.

Der Hadsch Mekka ist der Geburtsort des Propheten Mohammed und gilt für Muslime als wichtigster Wallfahrtsort. Jeder Gläubige sollte sich – wenn möglich – mindestens einmal im Leben dorthin begeben. Ungläubige dürfen sich nicht in der näheren Umgebung aufhalten. Den Mittelpunkt des Hadsch bildet die Kaaba, an dem rechteckigen Bau, den die Pilger siebenmalig umrunden, befindet sich der schwarze Stein, den Abraham als Geschenk vom Erzengel Gabriel erhalten haben soll. Auch die späteren Stationen sind festgelegt. Entsprechend legen alle Gläubigen größtenteils den gleichen Weg zurück. Nach Umrundung der Kaaba gehen sie zum Übernachten in die Zeltstadt Mina. Am zweiten Tag pilgern sie zum Berg Arafat zum Beten. Am dritten Tag strömen die Gläubigen zur Dschamarat-Brücke, hier steinigen sie symbolisch den Teufel, indem sie drei Säulen mit Steinen bewerfen.