Forscher erproben derzeit Teletherapien und suchen weiter nach den genauen Ursachen der Sprachstörung

Berlin . Der Blick wendet sich verlegen ab, bei der ersten Chance sucht der Gesprächspartner das Weite: Stotternde Menschen stoßen im täglichen Miteinander oft auf dieselben Reaktionen. „Einige behandeln Stotterer, als wären sie minderbemittelt, manche reagieren sogar mit Gelächter oder Aggressionen“, sagt Alexander Wolff von Gudenberg, Leiter des Sprechtherapie-Instituts Parlo in Calden bei Kassel.

Etwa 800.000 Menschen in Deutschland stottern dauerhaft. Die meisten Menschen wüssten wenig über die Sprechstörung, erklärt der Psychologe Johannes von Tiling. „Stottern erscheint ihnen kurios, ja zuweilen lächerlich“, schreibt er in seinem aktuellen Buch „Kognitive Verhaltenstherapie des Stotterns“. Zwar habe der Erfolg des Kinofilms „The King’s Speech“ über den stotternden König George VI. die Störung für kurze Zeit ins Rampenlicht gebracht. „Doch nach wie vor gibt es in Deutschland ein großes Defizit an Wissen über das Stottern.“

Ein Prozent der Erwachsenen stottert, 80 Prozent davon sind Männer

Eine Ursache sei, dass Stotternde selten wortreich für ihre Belange eintreten, erklärt Martin Sommer, Vorsitzender der Bundesvereinigung Stottern & Selbsthilfe (BVSS). Sie zögen sich eher komplett zurück und minimierten den Kontakt mit anderen. Auch Prominente täten sich oft schwer damit, sich als Stotterer zu outen, sagt Sommer. Marylin Monroe stotterte, Bruce Willis als Kind ebenfalls. In Deutschland ist wohl „Der Graf“, Sänger der Band Unheilig, das prominenteste Beispiel. „Für einige Zeit verweigerte er das Sprechen fast vollständig“, heißt es bei der BVSS. „Lehrer rieten ihm, bloß keinen Beruf zu ergreifen, in dem er viel Kontakt zu Menschen hat.“

Stotterer sind nicht schlechter darin, beim Sprechen die passenden Wörter zu finden. Beeinträchtigt ist die Fähigkeit, die beabsichtigten Worte adäquat auszusprechen. Besondere Probleme hätten viele Stotternde mit ihrem Namen, so von Tiling, „vermutlich weil sie vermuten, dass ein Stottern bei ihrem Namen besonders negative Reaktionen bei den Zuhörern hervorruft“.

Die Unterbrechungen werden in drei Kernsymptome unterteilt: Wiederholungen, Dehnungen von Lauten und Blockierungen. Wiederholt werden Laute, Silben oder ganze Wörter – etwa wie bei „Ich heiße K-K-K-Kirsten“. Von einer Dehnung wird bei Formulierungen wie „Gib mir bitte die Mmmmarmelade“ gesprochen. Blocks sind stumme Unterbrechungen, bei denen die Stimmorgane verkrampfen – etwa „Ich bin ____Axel“. Betroffene verharren dabei nicht selten mit offenstehendem Mund und angehaltener Luft.

Hinzu kommen als Reaktion der Betroffenen sekundäre Symptome. Sprechvorhaben würden so verändert, dass die Stotterblocks weniger stark auftreten, erklärt von Tiling. Sehr verbreitet sei das Einschieben von Lauten („Ich bin emmKarina“) und das Einsetzen von Pausen („Ich bin – Pause – Karina“). Typisch sei auch das Umschreiben und Austauschen gefürchteter Wörter. „Diese Sekundärsymptome sind für den Zuhörer oft nicht leicht als Stottern zu identifizieren.“

Am häufigsten stottern Kinder, wie Sommer erklärt. Bis zu elf Prozent seien es nach neueren Daten. Oft verschwinden die Unflüssigkeiten bei ihnen von selbst oder im Zuge einer Therapie. Nur noch etwa ein Prozent der Erwachsenen stottern, rund 80 Prozent sind männlich. Bei ihnen bleibt die Störung fast immer lebenslang bestehen. Auch mit Therapien lässt sich die Störung dann meist nur mindern und nicht vollständig aufheben.

Generell gibt es zwei große wissenschaftliche Therapierichtungen: das sogenannte Fluency Shaping und die Stottermodifikation. Beim Fluency Shaping üben Betroffene in einem Intensivkurs ein weiches gebundenes Sprechen für eine bessere Sprechkontrolle mit weniger unkalkulierbaren Kontrollverlusten. Dabei werden anfangs auch Sprechtempo und -rhythmus verändert, später aber der normalen Betonung wieder angepasst. Bei der Stottermodifikation wird der normale Redefluss beibehalten, nur an den Hänge-Stellen wird versucht, die jeweilige Blockade mit speziellen Techniken kontrollierter aufzulösen.

Gänzlich neue Therapieformen seien in den vergangenen Jahrzehnten nicht hinzugekommen, sagt von Gudenberg. Die technische Entwicklung der vergangenen Jahre habe aber eine neue Variante ermöglicht: die Online-Therapie. „Damit erreichen wir auch Menschen, die sonst keine Therapie machen wollen oder können.“ Eine wichtige Zielgruppe seien zum Beispiel Jugendliche. Zusammen mit der Techniker Krankenkasse bietet die Kasseler Stottertherapie derzeit in einem Pilotprojekt mit 300 Patienten solche Therapiestunden an. „Vier Menschen sitzen dabei virtuell an einem Tisch, begleitet von meist einem Therapeuten“, erklärt von Gudenberg. Die Teilnehmer lassen sich quasi von überall weltweit zuschalten. Beiträge können als Video aufgezeichnet, in der Gruppe abgespielt und diskutiert werden.

Erste Daten zeigten, dass solche Teletherapien ähnlich effektiv sind wie die herkömmlichen, sagt von Gudenberg. Das Pilotprojekt ist auf ein Jahr angelegt. Ob die Teletherapie wirke, müsse sich noch zeigen. Wichtig sei auch, dass weit mehr als flüssiges Sprechen vermittelt werde. „Eine Verhaltenstherapie verbessert das Ergebnis einer Behandlung deutlich.“

Sehr oft ist das Stottern mit Folgen für die Psyche und das gesamte Dasein verknüpft. „Die sozialen Nebenkosten sind hoch“, sagt Sommer. Weil sie schon als Kind immer wieder auf Abwertung und Stigmatisierung stoßen, entwickeln sich bei vielen Betroffenen übertriebene Ängste, wie von Tiling schreibt.

Entsprechend groß ist die Sehnsucht nach einem Wundermittel. Neue Ansätze könnte das Wissen um die genauen Ursachen des Stotterns liefern – doch noch ist vieles dabei unklar. Sicher ist, dass die Störung über alle Kulturen hinweg ähnlich oft und familiär gehäuft auftritt, es also eine starke genetische Komponente gibt. Studien weisen auf subtile Veränderungen der linken Hirnhälfte in der für Sprechmotorik und Hören zuständigen Region hin, wie Sommer, Neurologe an der Universität Göttingen, erläutert. „Die rechte Hälfte hilft aus und ist stärker aktiviert.“

Im „Journal of Communication Disorders“ beschreibt Per Alm von der Universität Lund in Schweden, dass vom Botenstoff Dopamin gesteuerte Prozesse eine Rolle spielen könnten, die beim Starten von Bewegungen bedeutsam sind. „Es gibt Parallelen zur Bewegungsstörung von Parkinsonpatienten“, so Sommer. „Wahrscheinlich liegt ein ähnlicher Mechanismus zugrunde.“

Der Charakter ist dagegen nicht entscheidend: Stotternde Kinder sind nicht ängstlicher, verhaltensauffälliger, depressiver oder weniger intelligent als andere Kinder.