Prominente auf der ganzen Welt verpassen sich eine kalte Dusche, um auf ALS aufmerksam zu machen. Sabine Niese ist von der Krankheit betroffen. Wie die Hamburgerin damit umgeht.

Hamburg. Es gibt so Phänomene, die genau so schnell kommen, wie sie wieder verschwinden. Und es ist sehr wahrscheinlich, dass die Sache mit der „Ice Bucket Challenge“ auch dazu gehört. Derzeit ploppen sie überall auf, die Videos von mehr oder weniger prominenten Menschen, die sich für den guten Zweck eiskaltes Wasser über den Kopf schütten. Eine Weile werden die unterhaltsamen Clips wohl noch in Erinnerung bleiben. Warum es dabei aber eigentlich ging, vermutlich nicht.

Das fürchtet zumindest Sabine Niese. Denn die Hamburgerin weiß leider sehr genau, worum es geht. Die 39-Jährige leidet unter der tödlichen Nervenkrankheit „Amyotrophe Lateralsklerose“, kurz ALS. Eine Diagnose, die brutaler wohl kaum sein könnte. Betroffene verlieren durch eine fortschreitende Schädigung der Nervenzellen nach und nach die Fähigkeit, sich zu bewegen. Meist beginnt die Schwäche in den Beinen. Später kommen Arme, Hände und Gesichtsmuskeln dazu. Irgendwann ist auch das Sprechen nicht mehr möglich. Reihenfolge und Verlauf sind von Fall zu Fall unterschiedlich. Nur der Ausgang ist immer derselbe: Am Ende versagt die Lungenmuskulatur, der Patient stirbt. Statistisch gesehen vergehen von der Diagnose bis zum Tod drei bis fünf Jahre. Sabine Nieses Diagnose ist sechs Jahre her.

Es ist Oktober 2008, als die Mutter dreier Söhne zum ersten Mal spürt, dass etwas nicht stimmt. „Ich fühlte mich erschöpft und kraftlos“, sagt sie. Langes Stehen fällt ihr auf einmal schwer, die Spaziergänge mit dem Hund werden kürzer und das Treppensteigen ist ein Kraftakt. Was ist plötzlich los? Normalerweise strotzt die junge Frau mit den leuchtend roten Haaren vor Energie, sitzt kaum einen Moment still, gibt in ihrem Job als selbstständige Kosmetikerin alles. Niese versteht einfach nicht, warum ihr Körper plötzlich streikt. Auch die Ärzte nicht. Am Anfang schiebt man es auf „Überlastung, irgendwas Psychisches.“ Sie solle sich schonen. Als sich ihr Zustand monatelang nicht bessert, untersuchen die Neurologen sie erneut. Ihren Job hat sie zu dem Zeitpunkt längst aufgegeben. Während die Ärzte mit Nadeln in ihre Muskeln piken, sagt sie noch: „Wenn es was Schlimmes ist, hätte ich doch lieber das Psychische“.

Doch es kommt anders: Es ist der 30. April 2009, als man sie mit den drei Buchstaben konfrontiert. „Von einen Tag auf den anderen war ich nicht mehr psychisch krank, sondern unheilbar“, so Niese. Wie lange es dauert, bis man das versteht, was auf einen zu kommt? „Ich glaube, ich habe es bis heute nicht verstanden.“ Nach der Diagnose sind Sabine Niese und ihre Familie auf sich gestellt. Sabine fühlt sich mit der Diagnose allein und überfordert. Sie hat viele Fragen. Und findet kaum Antworten. Auch im Internet gibt es kaum Informationen, keine Foren, in denen sie sich mit Gleichgesinnten austauschen kann. Fremden muss sie immer wieder von Neuem erklären, was sie hat. Menschen auf der Straße, in Geschäften, auf Ämtern, bei Versicherungen und der Krankenkasse.

Hier bekommt der Abendblatt-Chef den „Ice-Bucket“ ab

Irgendwann beschließt sie, eine Homepage einzurichten, und mit ihren Schicksal nach draußen zu gehen. Auf „Hetzjagd ins Licht“ berichtet sie von ihrem Leben mit der ALS, stellt Informationen zu der Krankheit zusammen und bildet ein Netzwerk mit anderen Betroffenen. Niese beschließt, offensiv mit der Erkrankung umzugehen, besucht Fernsehshows und gibt Interviews. Sie will gesehen und gehört werden, damit auch die Krankheit gesehen und gehört wird. Und sie versucht, ihr Leben weiter zu genießen, auszugehen, zu reisen, viel Zeit mit ihrer Familie zu verbringen. Das klappt natürlich nicht immer. Aber wer Sabine Niese erlebt, der spürt, dass es ihr oft gelingt. Wenn sie lacht, dann strahlt sie und dann bebt der Körper mit, auch wenn er sich von allein nicht mehr bewegen kann.

Nach Schätzungen sind rund 6000 Menschen in Deutschland von der ALS betroffen. Dazu zählte auch der 2005 verstorbene Profifußballer Krzysztof Nowak, der zuletzt beim Vfl Wolfsburg spielte. Eine Heilung gibt es nicht, nur Medikamente, die den Verlauf hinauszögern können. Doch Geld für die Forschung fehlt. Dennoch gibt Sabine Niese die Hoffnung nicht auf, dass sie es noch miterlebt, dass ein Medikament auf den Markt kommt, welches das Voranschreiten der Muskellähmungen zumindest stoppen kann.

Ihre eigenen Versuche, die Krankheit bekannt zu machen und prominente Spender zu finden, waren wenig erfolgreich. „Wer spendet schon für eine Krankheit, die keiner kennt?“, sagt sie. Deshalb war sie begeistert, als sie vor ein paar Tagen vor der „Ice Bucket Challenge“ hörte. „Endlich passiert man was“, sagt sie.

Die Idee für die ungewöhnliche Aktion stammt aus den USA. Das Prinzip ist einfach: Ein im besten Fall prominenter Mensch organisiert sich einen Eimer mit kaltem Wasser, kippt sich diesen über den Kopf und filmt das ganze mit dem Handy. Das Video stellt er dann ins Netz und nominiert drei weitere, die es ihm gleichtun sollen. Die haben dann 24 Stunden Zeit, um sich eine kalte Dusche zu verpassen – oder für den guten Zweck zu spenden. Die meisten tun einfach beides. Richtig groß rausgekommen ist das Prinzip aber erst in Verbindung mit der ALS. Nachdem zahlreiche Prominente in den USA teilgenommen haben, schwappte die Aktion auch nach Deutschland über. Auch nach Hamburg: In den vergangenen Tagen haben unter anderem Hamburgs Ehrenbürger und Unternehmer Michael Otto, Judith Rakers und Johannes B. Kerner teilgenommen.

Doch die Aktion kommt längst nicht überall gut an. Viele sind bereits genervt davon, das ständig irgendwo ein Video mit einem begossenen Promi aufploppt. Sabine Niese kann das verstehen. „Mich nervt es besonders, wenn Promis das Video nur aus PR-Gründen machen und in ihrer Ansprache kein Wort über die ALS verlieren“, sagt sie. Aber: „Genervt zu sein ist immerhin eine Reaktion.“ Grundsätzlich erhofft sie sich aber mehr. Nämlich, dass die tückische Krankheit bekannter wird und so eine Lobby bekommt. Und dass mehr bleibt als die Erinnerung an den Sommer 2014, in dem sich Menschen kaltes Wasser über den Kopf gekippt haben.

Wie kann ich helfen? Wer, auch unabhängig von der„Ice Bucket Challenge“, für die ALS-Forschung und die Betreuung von Betroffenen und Angehörigen spenden möchte, kann das zum Beispiel über die Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke tun. Der Verein kooperiert unter anderem mit der ALS-Charité in Berlin und dem Muskelzentrum in Hamburg.

Spendenkonto: Bank für Sozialwirtschaft, IBAN: DE 5666 0205 0000 0770 3200, BIC: BFSWDE33KRL