Heute legt das Bundesamt für Naturschutz (BfN) eine Rote Liste der Meeresbewohner vor. Danach ist jede dritte Art in Nord- und Ostsee gefährdet. BfN-Präsidentin Beate Jessel: Ökosystem ist gestört.

Bonn. Nach der neusten Bestandsaufnahme in der deutschen Nord- und Ostsee sind etwa 30 Prozent aller Fische, der am Boden lebenden wirbellosen Tiere (Muscheln, Schnecken, Würmer, Krebse, Seesterne u. a.) und Großalgen im Bestand gefährdet. Bei weiteren 37 Prozent der rund 1700 erfassten Arten ist die Situation unklar. Nur 31 Prozent gelten als ungefährdet, lautet die Bilanz der neuen Roten Liste.

Hamburger Abendblatt: Ist die Meeresnatur angesichts der neusten Ergebnisse ausreichend geschützt?
Beate Jessel: Die 30 Prozent gefährdete Arten sind ein eindeutiger Beleg dafür, dass für den Meeresschutz deutlich mehr getan werden muss. Zudem haben wir mit den 37 Prozent Arten, über die uns Informationen fehlen, eine sehr große Grauzone. Sie ist bei den Meeresbewohnern sehr viel größer als an Land, weil unser Kenntnisstand über die Meere viel geringer ist – hier herrscht großer Forschungsbedarf. Es ist zu vermuten, dass sich unter diesen fast 40 Prozent der Arten noch viele befinden, die stark gefährdet sind.

Welche Tier- oder Pflanzengruppen sind besonders bedroht?
Jessel: Die Unterschiede zwischen den einzelnen Artengruppen sind relativ gering. Bei den wirbellosen am Boden lebenden Tieren, die aufgrund ihrer Artenzahl die Gesamtbilanz dominieren, stehen gut 32 Prozent auf der Roten Liste. Bei den Fischen sind es 23 Prozent, bei den Großalgen 22 Prozent. Allerdings sind 30 Großalgen – acht Prozent der Gesamtartenzahl – ganz aus den deutschen Gewässern verschwunden. Dieser Prozentsatz ist im Meeresbereich der Spitzenreiter und wird auch im Binnenland nicht oft erreicht.

Ausgestorbene Großalgen, gleichzeitig Braunalgen-Massen an den Stränden: Wie passt das zusammen?
Jessel: Das eine wie das andere ist ein Anzeichen dafür, dass das Ökosystem Meer gestört ist. Gerade Massenentwicklungen einzelner Arten sind ein Indiz dafür. Eingriffe in die Meeresumwelt fördern die anpassungsfähigen, schnellwüchsigen Arten, die häufig auch über ein besonders gutes Ausbreitungsvermögen verfügen. Dagegen sind langlebige Arten in der Regel eher benachteiligt oder sogar geschädigt. Unter den Großalgen, die sehr stark abnehmen, sind viele Arten, die auf gute Lichtverhältnisse im Wasser angewiesen sind, sie leiden unter der zunehmenden Trübung vieler Gewässer. Andere brauchen Hartsubstrate, das heißt, sie können nur auf großen Steinen oder Felsen siedeln. Bis in die 1970er-Jahre wurden vor allem in der Ostsee Steine gezielt geborgen, um sie für Küstenschutzmaßnahmen zu verwenden.

Es fehlen die Meeressäuger. Wie geht es Robben und Walen?
Jessel: Die Meeressäugetiere wurden bereits im Jahr 2009 in der Roten Liste der Säugetiere behandelt. Bei uns kommen die Kegelrobbe, der Seehund, der Große Tümmler und der Schweinswal regelmäßig vor. „Kamen vor“, muss man im Falle des Großen Tümmlers sagen, denn er gilt in deutschen Gewässern seit den 1970er-Jahren als ausgestorben. Die Kegelrobbe erholt sich, steht aber wegen ihres noch sehr kleinen Bestandes auf der Roten Liste in der Kategorie 2 („stark gefährdet“). Dort ist auch der Schweinswal zu finden, der leider schwere Verluste zu verkraften hat. Ungefährdet ist nur der Seehund.

Was bedroht die Meeresbewohner?
Jessel: Die Fischerei beeinträchtigt die gesamte Lebensgemeinschaft in Nord- und Ostsee, nicht nur die Fischfauna. Gerade die Grund- und Schleppnetzfischerei, die den Boden aufwühlt und das Leben am Meeresgrund durcheinanderbringt, ist ein wesentlicher Einflussfaktor. Eine weitere Gefährdungsursache ist der Eintrag von Nährstoffen. Er führt zu starken Mikroalgenblüten. Sie verringern den Lichteinfall in größere Tiefen und erhöhen die Masse an Schwebstoffen im Wasser. Darunter leiden neben vielen Großalgen auch die Filtrierer, die ihre Nahrung aus dem Wasser filtern, etwa Muscheln. Zudem zerstören der Abbau von Rohstoffen und Baggerarbeiten unmittelbar den Lebensraum fest sitzender Arten wie der Miesmuschel. Und auch die Bodenbewegungen trüben das Meerwasser.

Wo ist die Gefährdung gewachsen, wo zurückgegangen?
Jessel: Alle Beeinträchtigungen sind anhaltend hoch. Bei den Einträgen von Nährstoffen haben wir erste kleine Erfolge zu vermelden, hier ist die Tendenz leicht rückläufig. Aber es wird selbst wenn wir entschiedene Gegenmaßnahmen ergreifen noch sehr, sehr lange dauern, bis sich das Ökosystem wieder erholen wird. Die Nährstoffeinträge kommen maßgeblich von der Landwirtschaft, landen über die Flüsse schließlich im Meer. Ein neuer Einflussfaktor ist der Klimawandel, der sich stark auswirkt auf die Ausbreitung von einigen Arten. So finden wir bei südlicheren Arten wie der Sardelle und Streifenbarbe einen positiven Bestandstrend. Ebenfalls neu ist der vermehrt auftretende Kunststoffmüll, die sogenannten Mikropartikel. Sie können mit Schadstoffen behaftet sein und werden zum Teil mit Nahrung verwechselt. Allgemein nimmt die Nutzungsintensität der Meere weiter zu. So sind allein vor den deutschen Küsten 34 Windparks genehmigt worden, 94 weitere sind beantragt und befinden sich im Verfahren.

Welche Lebensräume sind besonders schützenswert?
Jessel: Grundsätzlich sind alle Lebensräume schützenswert. Wir richten unser Augenmerk besonders auf diejenigen, für deren Schutz gesetzliche Bestimmungen bestehen, die wir umsetzen müssen. Deutschland hat mehr als 40 Prozent seiner Meeresgebiete in der Nordsee und 50 Prozent in der Ostsee unter Schutz gestellt. Da müssen jetzt noch Schutzgebietsverordnungen erlassen und ein bestimmtes Management durchgeführt werden. Außerhalb der Gebiete gibt es geschützte Biotope, etwa riffartige Strukturen, Sandbänke, Seegraswiesen, Schlickrasen.

Wie weit wird der Schutz in den Gebieten reichen? Wird die Fischerei verboten?
Jessel: Das ist ganz schwierig, weil der Umweltbereich nicht alleine im Boot sitzt. Die Zuständigkeit für die Fischerei liegt beim Landwirtschaftsministerium. Es ist leider nicht ganz einfach, hier einen Konsens herzustellen. Zudem müssen wir auch auf europäischer Ebene entsprechende Vereinbarungen erreichen. Es würde nichts bringen, wenn Deutschland national Verbote erlassen würde, aber die betroffenen Gebiete international weiter befischt werden dürften. Als Ökologin bin ich davon überzeugt, dass wir nutzungsfreie Bereiche brauchen, damit die Fische Rückzugsräume erhalten. Internationale Studien konnten zeigen, dass am Rande von Meeresschutzgebieten, die konsequent nutzungsfrei gehalten werden, die Fischerträge deutlich zunehmen. Denn solche Gebiete fungieren als Quellbiotope, aus denen heraus sich die Arten wieder ausbreiten können.

Können Windparks solche nutzungsfreien Zonen ersetzen?
Jessel: Ich bin da sehr vorsichtig. Zum einen fehlen uns die Erfahrungen, zum anderen stellen auch die Betonfundamente der Rotoren Eingriffe in die Natur dar. So befinden sich auf einstmals ausschließlichen Sand- und Schlickböden plötzlich Hartsubstrate. Auf ihnen siedeln sich ganz andere Organismen an. So kann die ursprüngliche Meeresfauna verfälscht werden.

Wie wichtig ist der grenzüberschreitende Meeresschutz?
Jessel: Meerestiere und -pflanzen kennen keine Landesgrenzen, deshalb ist der internationale Meeresschutz so wichtig. Momentan bemühen wir uns im Ostseeraum um eine verstärkte Zusammenarbeit mit Russland. Wir haben dazu von der Gegenseite bereits sehr positive Signale bekommen.