Es gilt als sicher, dass moderater Alkoholgenuss vor Herzinfarkt schützen kann – doch welche Mengen tatsächlich unbedenklich sind, ist umstritten.

Hamburg. Verträgt eine Italienerin aus Mailand mehr als dreimal so viel Alkohol am Tag wie eine Deutsche aus Mannheim oder Magdeburg? Wenn es nach den Empfehlungen der für die Gesundheit zuständigen Institutionen geht, ist das tatsächlich der Fall: Italienische Mediziner legen die Messlatte für einen gesundheitlich verträglichen Alkoholkonsum auf 40 Gramm pro Tag, während die Kölner Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung deutschen Frauen nur zwölf Gramm Alkohol pro Tag zugestehen möchte. Wo liegt die Wahrheit wirklich? Dieser Frage gingen jetzt Forscher in der „Deutschen Medizinischen Wochenschrift“ nach.

Die Empfehlungen für einen gesundheitlich unbedenklichen Alkoholkonsum weichen international in einem geradezu grotesken Ausmaß voneinander ab. Für einen portugiesischen Mann beginnt das gesundheitliche Risiko erst bei 40 Gramm Alkohol pro Tag, während der deutsche Mann bereits nach 20 Gramm täglichen Konsums das Glas absetzen sollte. In Frankreich dürfen sich Frauen und Männer gleichermaßen unbesorgt täglich 30 Gramm Alkohol genehmigen, in den USA liegen die zugestandenen Mengen für Männer bei 28, bei Frauen nur 14 Gramm pro Tag.

Raucher und Trinker verschließen gern die Augen vor den Risiken ihres Tuns. Positives über ihre Laster hören sie dagegen besonders gern. Professor Nikolaus Worm (München), Kardiologe Professor Gustav Belz (Wiesbaden) und Ernährungswissenschaftlerin Claudia Stein-Hammer (Mainz) haben die aktuellsten Quellen der seriösen Wissenschaft durchforstet, um den Beweis für den günstigen Einfluss von Alkohol und insbesondere von Wein auf die Gesundheit zu führen. Worm und Belz sind wissenschaftliche Beiräte der Deutschen Weinakademie DWA, Claudia Stein-Hammer ist die wissenschaftliche Leiterin dieser in Mainz beheimateten Lobby-Organisation der deutschen Weinwirtschaft – ein Interessenkonflikt, den sie im renommierten Fachblatt „Deutsche Medizinische Wochenschrift“ auch offen und wissenschaftlich korrekt deklarieren.

Die drei Weinexperten zitieren in ihrer Arbeit 41 Studien, die in den letzten 15 Jahren zum Thema „Alkohol und Herz“ veröffentlicht worden sind. Die neueste und umfangreichste Metaanalyse von 84 Langzeitbeobachtungsstudien aus aller Welt kam 2011 zum folgenden Ergebnis: „Im Vergleich zur Abstinenz war das Risiko für die Herz-Kreislauf-Sterblichkeit bei Alkoholkonsum im Mittel um 25 Prozent gesenkt. Die Dosis, die das geringste Risiko anzeigte, lag im Bereich von 15 bis 30 Gramm Alkohol ( 200 bis 400 ml Wein) pro Tag, wobei Frauen eher dem niedrigeren Bereich zuzuordnen sind. Bei einem Konsum von bis zu 15 Gramm Alkohol pro Tag fand sich darüber hinaus auch eine signifikant gesenkte Gesamtsterblichkeit (um 13 Prozent).“

In den meisten Studien zeigt sich eine J-förmige Beziehung zwischen Alkoholkonsum und Herzleiden. Diese Figur der statistischen Zahlensäulen lässt erkennen: Menschen, die auf Alkohol aus welchen Gründen auch immer verzichten, handeln sich damit ein höheres Gesundheitsrisiko ein, als moderate Genießer. Bei deutlich höheren Mengen indes entfaltet Alkohol seine gefährliche Wirkung auf Gehirn, Leber und Herz sowie auf die Krebsentstehung.

Beruht die schützende Wirkung allein auf dem Alkoholgehalt eines Getränks oder hängt sie speziell vom jeweiligen alkoholischen Getränk ab? Dieser Frage gingen 2011 italienische Epidemiologen nach. Worm und Kollegen berichten: „Sie hatten aus 16 vorliegenden Fallkontroll- und Langzeitbeobachtungsstudien Daten zum Wein-, Bier- und Spirituosenkonsum mit der Herz-Kreislauf-Gesundheit und der Gesamtsterblichkeit in Beziehung gesetzt. Im Ergebnis bestätigte sich auch hier die J-förmige Beziehung zwischen dem Weinkonsum und Herz-Kreislauf-Ereignissen. Die größte Risikoreduktion betrug 31 Prozent bei einem mittleren Konsum von 21 Gramm Alkohol pro Tag. Eine statistisch signifikante Risikominderung fand sich bis zu einer Menge von 72 Gramm pro Tag. In Bezug auf die kardiovaskuläre Sterblichkeit lag die maximale Risikoreduktion von 34 Prozent bei 24 Gramm pro Tag.“

Auch für Bier wurde ein präventiver Effekt vor Herz-Kreislauf-Ereignissen gefunden, während sich für Spirituosen in zehn Studien kein statistisch eindeutiger Zusammenhang fand.

Die 2012 vorgestellten Ergebnisse der großen US-amerikanischen NHANES III-Studie (National Health and Nutrition Examination Survey III Mortality Study) identifizierten den täglichen moderaten Konsum alkoholischer Getränke als einen der vier Lebensstilfaktoren, die in Bezug auf die Sterblichkeit als besonders risikomindernd anzusehen sind. Bezüglich der Herz-Kreislauf-Gesundheit zeigte der moderate Alkoholkonsum sogar stärkere Schutzeffekte als die anderen drei Lebenszeitverlängerer Nichtrauchen, körperliche Aktivität und gesunde Ernährung. Dabei spielten auch die Trinkgewohnheiten eine maßgebliche Rolle: Wer regelmäßig, aber mäßig trinkt, hat mehr davon als der gelegentliche Rauschtrinker oder Komasäufer.

Die Erklärung für die infarktverhütende Wirkung des Alkohols liegt nach übereinstimmenden Studien in der Beeinflussung der Blutfette. Menschen, die regelmäßig geringe Mengen Alkohol zu sich nehmen, verfügen offenbar über mehr sogenannte High Density Lipoproteine, abgekürzt HDL. Die Aufgabe dieser Fett-Eiweiß-Verbindungen besteht darin, das Cholesterin von den Wänden der Arterien weg zu transportieren. Sie wirken somit der sogenannten Verkalkung entgegen. Gleichzeitig wird durch den Alkohol der LDL-Anteil des Cholesterins gesenkt, jener Moleküle, die als erhebliches Infarktrisiko angesehen werden, weil sie sich an der Gefäßwand ablagern.

Wein sei aber mehr als nur Alkohol, betonen Prof. Worm und sein Team: „Wein enthält neben Alkohol weitere Inhaltsstoffe mit spezifischen biologischen Wirkungen – vor allem zahlreiche Polyphenole. Polyphenole schützen die Pflanze vor schädlichen Umwelteinflüssen, wie Parasiten oder Pilzen. Sie haben auch beim Menschen ein hohes pharmakologisches Potenzial. Viele wirken antioxidativ und hemmen auf diese Weise die Oxidation des LDL-Cholesterins, vermindern dessen Ablagerung in der Gefäßwand und verlangsamen so offenbar den Prozess der Atherogenese.“

Trotz dieser Erkenntnisse sehen sich auch die wissenschaftlichen Berater der Deutschen Weinakademie nicht berechtigt, uneingeschränkt zum Alkohol- bzw. Weingenuss zu raten. Sie betonen: „Bei Mengen von mehr als 20 Gramm Alkohol pro Tag für Frauen und 30 Gramm für Männer ist keine weitere Risikominderung im Herz-Kreislauf-Bereich erkennbar. Da ab dieser Dosis die alkoholassoziierten Risiken – die Leber- und Pankreas-Erkrankungen, bestimmte Tumorarten und Sucht – ansteigen, ist von einem mehr als moderaten Konsum dringend abzuraten.“ Die von Professor Worm und seinen Kollegen zugestandenen täglichen Mengen lassen die Hoffnung auf ungezügeltes Zechen sehr schnell schwinden: Sie entsprechen bei Frauen 0,2 Liter, bei Männern 0,3 Liter Wein pro Tag.

Dass der Durst vieler Bürger in Deutschland größer ist als es die Wissenschaft erlaubt, geht aus den aktuellen Zahlen der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen DHS hervor: Mit 107,2 Liter Bier, 25,1 Liter Wein und Sekt und 5,4 Liter Spirituosenverbrauch im Jahr je Einwohner liegt Deutschland im oberen Mittelfeld des Alkoholkonsums und überrundet um Längen die traditionellen Genießernationen Frankreich, Italien, die Schweiz oder Griechenland. Chronischer Alkoholismus führt zu vielfachen Organschäden: Etwa 74.000 Todesfälle jährlich sind allein durch den Alkoholkonsum oder den kombinierten Konsum von Tabak und Alkohol verursacht.