Eine Studie bestätigt, dass unsere nächsten Verwandten Tote beerdigten. Aber was heißt das? Die spärlichen Funde lassen viel Raum für Spekulation

Toulouse/Erlangen. Am 3.August 1908 machten die drei Brüder Amedée, Jean und Paul Bouyssonie in Südwestfrankreich einen aufsehenerregenden Fund: In einer Höhle nahe La Chapelle-aux-Saints in der Region Limousin entdeckten sie Knochen eines Neandertalers. Das rund 50.000 Jahre alte Skelett war nahezu unversehrt. Der Fund war eine wissenschaftliche Sensation. Aus den – teilweise deformierten – Knochen des in der Fachwelt LCS1 genannten Mannes zogen Forscher weitreichende Schlüsse über das Leben der Neandertaler. Der französische Paläontologe Marcellin Boule prägte die Vorstellung von eher affenartigen Wesen, die nur wenig mit dem modernen Menschen gemein haben. „Darauf basierte lange Zeit das Bild vom Neandertaler als keulenschwingendem Höhlenbewohner“, sagt Prof. Thorsten Uthmeier von der Universität Erlangen.

Ausgerechnet dieser Fund lieferte aber auch den ersten klaren Beleg dafür, dass unsere vor etwa 34.000 Jahren ausgestorbenen Verwandten wohl Tote bestatteten – lange bevor der moderne Mensch vor etwa 44.000 Jahren nach Europa kam. „Vor allem die Grube und der gute Zustand des Skeletts deuteten darauf hin, dass es sich um ein Grab handelte“, sagt Prof. Jean-Jacques Hublin vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Nur eine schnelle Bestattung, so die Annahme, habe den Toten vor aasfressenden Tieren bewahrt.

In den folgenden Jahren entdeckten Forscher weitere mögliche Gräber von Neandertalern. Manche Experten sprechen von insgesamt 40 gut belegten Bestattungen, Hublin bewertet etwa ein Dutzend Funde als überzeugend. Sie liegen vor allem in Frankreich und im Nahen Osten, etwa Kebara in Israel oder Shanidar im Nordirak. „Irgendwann nahm man Bestattungen als gesichert an“, sagt Hublin. „Doch daran gab es Kritik.“

Skeptiker monierten, das bloße Vorhandensein unversehrter Skelette sei kein Beweis für ein absichtlich angelegtes Grab. Körper könnten auch durch Steinschlag oder Erdrutsche verschüttet und vor Tieren geschützt werden. Und die Senken, in denen man die Toten fand, könnten natürlichen Ursprungs sein oder von Tieren gegraben. „Das Problem war, dass man nicht zurückgehen und die Gräber prüfen konnte“, sagt Hublin. „Sie waren ja schon vor Jahrzehnten ausgegraben worden.“

Schließlich tat eine internationale Forschergruppe dennoch genau das: Mehr als 100 Jahre nach der Entdeckung in La Chapelle-aux-Saints nahmen die Wissenschaftler um William Rendu vom Pariser Centre National de la Recherche Scientifique die Ausgrabungsstätte erneut minuziös unter die Lupe – und wurden überraschend fündig, wie sie in der Fachzeitschrift „PNAS“ berichten. In verschiedenen Schichten fanden sie Steinwerkzeuge zum Ritzen und Schaben, zusammen mit Resten von Rentieren, Bisons, Wölfen und Dachsen. Doch vor allem stießen sie auf 13 Relikte von Neandertalern. Vier davon stammten von dem ursprünglich entdeckten Skelett LSC1: die Wurzel eines Backenzahns, ein Splitter vom Schulterblatt, ein Teil des Ellenknochens und ein Fingerglied. Die übrigen Stücke – durchweg Zähne – wurden zwei Kindern und einem Erwachsenen zugeordnet.

Am Fundort sei die Vertiefung im Mergelgestein – 39 Zentimeter tief, 140 Zentimeter lang und 85 Zentimeter breit – höchstwahrscheinlich nicht natürlichen Ursprungs und auch nicht von einem Bären für den Winterschlaf gegraben worden, betonen die Forscher nach der Analyse. Man müsse davon ausgehen, dass die Grube bewusst angelegt worden sei.

Hauptargument für ein Grab aber ist der Zustand des Skeletts, der sich fundamental von den gefundenen Tierknochen unterscheidet. Während diese verwittert und angenagt waren, wies LSC1 keine solchen Spuren auf. Dies zeige, ebenso wie die weitgehende Vollständigkeit des Skeletts, dass der Körper rasch mit Erde bedeckt worden sei. „Es gibt keinen Grund, die Interpretation von LCS1 als Bestattung anzuzweifeln“, folgern die Forscher. Hublin hält die Argumentation für „ziemlich überzeugend“.

Doch er warnt davor, dies mit heutigen Beerdigungen gleichzusetzen. „Minimalkonsens ist: Die Bestattungen waren dazu gedacht, die Toten zu schützen, etwa vor Aasfressern wie Hyänen“, sagt auch Uthmeier. Alles Weitere sei Spekulation. Daraus auf Rituale oder gar Jenseitsvorstellungen zu schließen, gehe viel zu weit, zumal in den meisten Grabgruben Objekte fehlten. „Ohne Grabbeigaben sind Jenseitsvorstellungen kaum plausibel zu machen“, sagt er.

Wie tückisch Interpretationen sein können, zeigt der Fall der Shanidar-Höhle im Nordirak. Aus gefundenen Pflanzenresten schloss der US-Prähistoriker Ralph Solecki, dass Neandertaler Gräber mit Blumen versahen. Im Titel eines 1971 erschienenen Buchs porträtierte er die Neandertaler sogar als erstes Blumenvolk, („The First Flower People“). „Nachuntersuchungen zeigten, dass die Fundschicht stark von Tiergängen durchzogen war“, erzählt Uthmeier. „Die Blumenreste waren wohl von Kleintieren eingetragen.“

Offen ist auch, wie gängig Bestattungen bei Neandertalern waren. Die Funde liefern ein uneinheitliches Bild. Die weitaus meisten klaren Belege stammen aus Frankreich und dem Nahen Osten. „Selbst wo wir Gräber finden, scheint das die Ausnahme gewesen zu sein“, betont Hublin.

Doch je nach Interpretation könne man auch von deutlich mehr Gräbern ausgehen, meint Uthmeier. Als Beispiel nennt er die Sesselfelsgrotte im niederbayrischen Altmühltal. Dort hätten Knochen eines Fötus Zehntausende Jahre überdauert, was man als Indiz auf eine zügige Bedeckung werten könnte. „Wenn man das zulässt, dann gibt es eine große Zahl weiterer Beispiele“, sagt der Ur- und Frühgeschichtler.

Wie dem auch sei. „Die Entdeckung bestätigt nicht nur die Existenz von Neandertaler-Bestattungen in Westeuropa, sondern enthüllt auch eine relativ ausgeklügelte kognitive Kapazität, sie anzulegen“, betont Rendu. „Wir können zwar nicht wissen, ob diese Praxis Teil eines Rituals war oder bloßer Pragmatismus, aber die Entdeckung verringert den Verhaltensabstand zwischen ihnen und uns.“

Doch wie groß ist diese Distanz? Ein Dilemma der Forscher ist, dass sie aus spärlichen Daten möglichst viel ableiten müssen. Einzelne Funde deuten auf eine recht ausgeklügelte Kultur hin. Demnach nutzten Neandertaler Federn oder perforierte Muscheln als Schmuck und verwendeten Farben. Dokumentiert ist auch der Einsatz von Birkenpech: Dieser „Steinzeit-Klebstoff“ wird in einem raffinierten Verfahren aus Birkenrinde gewonnen. Und erst im August erklärten Forscher um Shannon McPherron vom Leipziger Max-Planck-Institut 50.000 Jahre alte Knochen zur Lederbearbeitung, die in Frankreich gefunden wurden, zu den ältesten europäischen Spezialwerkzeugen.

Doch auch hier ist offen, ob solche Praktiken weit verbreitet waren oder – wonach es eher aussieht – nur vereinzelt bekannt. Dies könnte auf eine geringe Bevölkerungsdichte zurückgehen. Genetische Studien zeigen, dass Neandertaler-Populationen mehrmals stark schrumpften. Möglicherweise streiften zeitweilig nur wenige Tausend Individuen durch Europa. Dies kann die Rate von Erfindungen gering halten und erschwert es, praktische Neuerungen weiterzugeben oder aufzuschnappen.

Hublin sieht einen deutlichen Unterschied zwischen den Gräbern der Neandertaler und jenen des Homo sapiens: „Neandertaler-Gräber zielen darauf ab, den Körper zu schützen. Und im Gegensatz zu Neandertalern kann man bei modernen Menschen Objekte finden.“ Die frühesten Gräber des Homo sapiens im heutigen Israel sind mehr als 100.000 Jahre alt. In Europa werden die frühesten Belege auf rund 30.000 Jahren datiert – also etwa zu jener Zeit, als die Neandertaler ausstarben.

Tatsächlich enthalten manche menschliche Gräber reichlich Grabbeigaben – und nicht nur das. „Die Toten wurden in Gräbern auf vielfältige Weise inszeniert“, sagt Uthmeier. Mitunter trugen sie reich verzierte Kleidung, Schmuck oder Waffen. Manche Skelette liegen in enger Umarmung beieinander oder Kopf an Kopf. Im russischen Sungir waren Gräber mit Tausenden Perlen verziert – doch die meisten dieser Funde sind mindestens 20.000 Jahre jünger als das Neandertaler-Grab in La Chapelle-aux-Saints.

Beigaben enthielt zwar auch die etwa 100.000 Jahre alte Fundstelle in Qafzeh, Israel. Doch üppig ausgestattete Gräber sind möglicherweise auch bei Menschen die Ausnahme. Das berichteten kürzlich Forscher um Julien Riel-Salvatore von der University of Colorado in Denver. Sie hatten 85 Bestattungen des frühen Homo sapiens untersucht. Die meisten Gräber seien sehr schlicht und vergleichbar mit denen der Neandertaler, schreiben sie.

„Manche Forscher haben Bestattungspraktiken verwendet, um moderne Menschen von Neandertalern zu unterscheiden“, sagt Riel-Salvatore. „Wir zweifeln die orthodoxe Meinung an, dass alle modernen Gräber komplexer waren als die der Neandertaler. Mit fortschreitender Forschung finden wir Hinweise, dass die Neandertaler Praktiken anwandten, die generell als typisch für die modernen Menschen gelten.“