Das Herbarium Hamburgense ist eines der größten Pflanzen-Archive. Hier lagern mehr als 1,8 Millionen Gewächse aus aller Welt.

Hamburg. Die Aktenschränke könnten in jeder Bundesbehörde stehen. Grau, dicht an dicht, in Dutzenden parallelen Reihen offenbart sich keineswegs auf den ersten Blick, welche Schätze hier schlummern.

Wie stellt man sich ein Herbarium vor? Hohe, alte Räume mit langen Holztischen? Darauf Mappen voller großformatiger, leicht angegilbter Pappen, auf denen vor langer Zeit getrocknete Pflanzen aufgeklebt und mit spitzem Bleistift beschriftet wurden? Genau diese Blätter gibt es hier, und zwar 1,8 Millionen an der Zahl – nur liegen sie in den mehr als 25.000 Kästen, die in den Schränken verstaut sind. Das Herbarium Hamburgense ist eines der größten Pflanzenarchive Deutschlands. Noch lange sind nicht alle Belege bearbeitet, geschweige denn digitalisiert. Ein Besuch im Biozentrum Klein Flottbek.

Ein schönes Ahornblatt hat wohl jeder schon einmal zwischen die Seiten eines dicken Buches gelegt, wo es – zugegebenermaßen recht unsachgemäß – getrocknet und gepresst wurde. Doch wie archiviert man eigentlich einen Kaktus? „Kakteen und andere Sukkulenten, also Pflanzen mit wasserreichen Geweben, werden in Scheiben geschnitten, bevor man sie für ein Herbarium trocknen kann. Deshalb werden diese Gruppen auch nicht so oft bearbeitet“, sagt Hans-Helmut Poppendieck. Der Botaniker war seit 1987 als Kustos am Herbarium Hamburgense für die Höheren Pflanzen verantwortlich. Nach 25 Jahren ging er gerade in Pension. „Ein Nachfolger wird gesucht“, sagt er. Der zweite Hüter für die Niederen Pflanzen des oft mehr als 100 Jahre alten Herbariums scheidet 2014 aus. Auch seine Stelle soll neu besetzt werden.

Denn an Arbeite mangelt es nicht in der größten norddeutschen Sammlung ihrer Art: In der Datenbank des Herbariums, die über die Homepage des Biozentrums aufgerufen werden kann (www.herbariumhamburgense.de), sind derzeit etwa 27.000 Einträge vorhanden. Davon sind 11.000 sogenannte Typusbelege. Als Typus werden solche Belege von Pflanzen bezeichnet, die die Grundlage für die Definition und Benennung einer Art oder einer höheren taxonomischen Einheit wie etwa der Gattung bilden. „Geschätzt dürften etwa 35.000 Typen in unserem Herbarium vorliegen“, sagt Poppendieck. Irgendwo zwischen den 40 bis 200 Belegen pro Kasten, die wissenschaftliche Mitarbeiter Stück für Stück sichten.

Sammelleidenschaft spielt keine Rolle für die Sichtung. Die Typusbelege werden von Wissenschaftlern aus der ganzen Welt angefordert, um gesammelte Pflanzen damit zu vergleichen. Wurde eine neue Art entdeckt? Vielleicht gar eine ganz neue Gattung? Das gilt es anhand der Hamburger Typusexemplare herauszufinden. „Bevor wir angefangen haben, die Belege zu scannen, haben wir auf Anfragen hin etwa vier Pakete pro Tag verschickt“, sagt Marko Saggau, Mitarbeiter des Herbariums Hamburgense. Saggau steht an einem Scanner, der falsch herum installiert ist: Die Glasplatte mit dem Scanner darunter kann auf das Blatt mit der aufgeklebten Pflanze von oben her abgesenkt werden; das Papier mit der Pflanze muss nicht umgedreht und auf eine Fläche gelegt werden. „Dadurch ist die Gefahr, die Pflanze zu schädigen, wesentlich geringer“, sagt Saggau.

An den Blättern, die um ihn herum liegen, zeigen sich die unterschiedlichen Methoden der Sammler: Manche Pflanzen wurden mit Papierstreifen, die mit Leim beschichtet wurden, fixiert, andere mit einzelnen Klebertropfen. Beschriftungen wurden meist mit Bleistift oder Tinte vorgenommen – „Eisengallustinte“, wie Poppendieck erläutert. Eine dokumentenechte Tinte, die bereits seit dem 3. Jahrhundert v.Chr. eingesetzt wird. Heute ist auch das verwendete Papier archivzertifiziert.

Probleme, die Raritäten zu bewahren (der älteste Beleg wurde um 1700 auf Kreta gesammelt), hatten die Wissenschaftler trotzdem. Ihr Feind: Der Brotkäfer. Die im Volksmund auch „Bücherwurm“ genannten, drei Millimeter kleinen, braunen Käfer fressen sich gerne durch menschliche Vorratsschränke – und knabbern dabei auch an trockenen Pflanzen. Für das Herbarium Hamburgense wurden eigens zwei Kühlkammern gebaut, in die die Kästen mit den Belegen nach und nach hineingeschoben wurden. 24 Stunden bei minus 24 Grad Celsius – „so hatten wir nach drei Jahren die Brotkäfer im Griff“, sagt Poppendieck. Die Schädlinge starben durch die Entfeuchtung in der Kühlkammer. Poppendieck: „Der Nachteil ist, dass Samen, die bei einigen Pflanzen mit vorhanden sind, hinterher nicht mehr aussaatfähig sind.“

1883 als kleines Botanisches Museum gegründet, wuchs das Herbarium Hamburgense durch die Übernahme von Beständen des Museums Godeffroy (1886) und des Altonaer Museums (1920-1950). Im Zweiten Weltkrieg wurden 1942 etwa 200.000 Exemplare (rund 20 Prozent des damaligen Bestands) nach Schloss Mutzschen in Sachsen ausgelagert, wo sie von der Roten Armee konfisziert und nach Leningrad gebracht wurden. Ab 1960 war dieser Teil der Sammlung im Museum für Naturkunde im Ostteil Berlins untergebracht. 1990 konnten die Belege von dort abgeholt und nach Hamburg zurückgebracht werden, wo sie seit 1992 – 50 Jahre nach der Weggabe – wieder von Hamburger Wissenschaftlern bearbeitet werden können.

Natürlich befinden sich auch Hamburger Pflanzen unter den Belegen: „Eine Hamburgensie ersten Ranges ist der älteste uns bekannte Herbarbeleg eines Wildpflanzenvorkommens aus Hamburg mit der Ortsangabe ‚Gesammelt bei Berg und Tal an der Elbe‘“, sagt Poppendieck. Die Wendelähre, eine Orchideenart, kommt heute bei uns nicht mehr vor. Aus der Ortsangabe von 1790 leiteten die Forscher ab, dass sie im Bereich des heutigen St. Paulis gesammelt worden sein muss – Hamburger Berg und Talstraße erinnern an einstige geografische Verhältnisse dort.

Auch Zeichnungen, wie die der Berlinerin Ilse von Nolde, die von 1928 bis 1938 Pflanzen in Angola sammelte, sind im Herbarium zu finden. Sie stecken nur nicht, wie viele der Belege, in alten Zeitungsseiten, die mit den Pflanzen in die Herbarpressen wanderten, um die Feuchtigkeit aufzunehmen. „Die alten Zeitungen halten einen manchmal ganz schön von der Arbeit ab, weil man spannende Dinge darin entdeckt“, sagt Poppendieck und lacht. Eine Arbeit, die er und seine Kollegen „treuhänderisch für die internationale Wissenschaft“ tun.