Gegen Stress hilft keine Therapie, sondern eine andere Lebenseinstellung, sagt der Mediziner und Theologe Manfred Lütz

Das Leben ist hektischer geworden. Burn-out ist heute ein Sammelbegriff für allgemeine Stress- und Erschöpfungsgefühle. Aber machen wir uns den Stress nicht auch selbst? Manfred Lütz ist Bestsellerautor – und eine rheinische Frohnatur. Aber auch ein sehr ernsthafter Psychotherapeut, der seine Zeit genau beobachtet. Mit ihm sprach Irene Jung.

Hamburger Abendblatt:

Herr Lütz, haben Sie ein Smartphone, auf dem Sie jederzeit Ihre Mails lesen können?

Manfred Lütz:

Nein, nur ein Handy. Ich habe keine Lust, dauernd Mails zu lesen.

Immerhin halten Sie Vorträge, leiten eine psychiatrische Klinik, haben Patienten, sind oft im Fernsehen, schreiben Bücher, und eine Familie haben Sie auch. Haben Sie manchmal das Gefühl, dass Ihnen alles über den Kopf wächst?

Lütz:

Nein. Wenn ich Vorträge über Muße und Entschleunigung halte, gerate ich zwar manchmal in Hektik. Aber wenn man sich klarmacht, dass das Leben begrenzt ist, lebt man anders. Könnte ich jedem Leser dieses Interviews sein genaues Todesdatum nennen, bin ich sicher, dass er ab sofort anders leben würde. Weil er wüsste: Dies ist ein unwiederholbarer Tag, den bekomme ich nie wieder. Mir ist zunehmend bewusst geworden, dass jeder Tag ein unwiederholbarer Tag ist. Wenn man im Auto sitzt und am Straßenrand wunderschöne Bäume sieht – das muss man genießen. Die Leute wollen das gleich mit ihrer Handy-Kamera aufnehmen. Besser wäre es, mit den Augen zu fotografieren, um diesen Moment nicht als einen von vielen anderen misszuverstehen. Er ist einzigartig. Das gibt mir tatsächlich Ruhe und Gelassenheit.

Gut, Sie sind offenbar kein Burn-out-Kandidat. „Burn-out als Krankheit gibt es gar nicht“, sagen Sie.

Lütz:

In der ICD 10 jedenfalls, der internationalen Klassifikation psychischer Störungen, ist Burn-out als Krankheit gar nicht vorgesehen, das ist da eine Z-Kategorie, so etwas Ähnliches wie Falschparken.

Was ist Burn-out denn dann?

Lütz:

Oft sind es Befindlichkeitsstörungen. Natürlich gibt es unter Burn-out Menschen, die wirklich krank sind. Autoren, die Bücher über ihr eigenes Burn-out geschrieben haben, haben mir bestätigt, dass sie in Wirklichkeit eine Depression hatten. Aber wenn die ständige Erreichbarkeit durch E-Mails und Handys als Ursache für Burn-out genannt wird, muss ich sagen: Das allein macht noch nicht krank. Im Dreißigjährigen Krieg waren die Leute rund um die Uhr für die Schweden erreichbar, das war viel unangenehmer. Im 19. Jahrhundert gab es Kinderarbeit, zwölf Stunden unter Tage, und im 20. Jahrhundert zwei Weltkriege. Wir müssen auf dem Teppich bleiben. Wir haben nicht größere, sondern andere Belastungen als früher.

Was wird denn am Burn-out falsch verstanden?

Lütz:

Oft wird damit eine existenzielle Krise bezeichnet. Wenn eine Frau von ihrem Mann verlassen wird, kann das erschütternder sein als eine schwere Depression. Dennoch ist das keine Krankheit, und dagegen hilft also auch keine Therapie. Da hilft eine gute Freundin, die vielleicht selbst einmal so etwas erlebt hat. Oder wenn jemand ein Ekel als Chef hat, das ihn am Arbeitsplatz dauernd unter Stress setzt, dann muss man dafür sorgen, dass der Chef sein Verhalten ändert, oder notfalls kündigen. Es hat keinen Sinn, vier Wochen zum Wassertreten in eine Burn-out-Klinik zu gehen und danach wieder zu dem Ekel zurückzukehren.

Burn-out entspricht offenbar einem Bedürfnis, ein Erschöpfungsgefühl auf den Punkt zu bringen. Laut dem Stressreport 2012 der Bundesanstalt für Arbeitsschutz klagen so viele Arbeitnehmer wie noch nie über psychische Belastung und Burn-out durch Arbeitsstress, über Lärm in Großraumbüros, ständige Müdigkeit und Überforderung durch Zeitdruck. Was stimmt denn nicht mit unserer Arbeitswelt?

Lütz:

Die Arbeitswelt hat sich immer verändert, und sie ist nicht für alle belastender geworden. Als es noch keine Waschmaschinen gab, war das Wäschewaschen für die Frauen eine schreckliche Schinderei. Es gibt Länder, in denen die Menschen durch körperliche Arbeit schwerst gestresst sind und sehr wenig Geld dafür bekommen. Da geht es uns besser. Natürlich empfinden manche Menschen die rasanten Veränderungen an ihren Arbeitsplätzen als belastend. Aber da muss man versuchen, etwas an der Arbeitssituation zu verbessern, und nicht gleich zum Therapeuten gehen.

Vielleicht umschreibt Burn-out bei vielen auch einen Enttäuschungszustand. Man qualifiziert sich ständig für technische Neuerungen weiter – aber das Produkt wird nicht zwingend qualitätsvoller, es rechnet sich nur besser. Zeit für den Kunden ist selten geworden.

Lütz:

Das erlebe ich in meinem Bereich auch: Ärzte haben heute viel weniger Zeit für Patienten, wenn sie ökonomisch über die Runden kommen wollen. Ich habe schon engagierte Hausärzte behandelt, die deswegen depressiv wurden. Die sind Arzt geworden, weil ihnen leidende Menschen wirklich am Herzen lagen, und sind an der Alternative zerbrochen: Entweder ich bin ein guter Arzt und gehe pleite, oder ich nehme mir nur fünf Minuten pro Patient.

Selbst die Freizeit ist ja oft mit Sport und Fitness vollgepackt. Ein Sportmediziner meinte: Die Deutschen brauchen das Sichauspowern, sie müssen ihren Kreislauf hochtunen, um entspannen zu können. Andere Kulturkreise erreichen dasselbe mit Tai-Chi oder Meditation.

Lütz:

Die europäische Kultur hat doch auch viele spirituelle Quellen, die auf eine Entschleunigung zielen. Die Regel des Heiligen Benedikt zum Beispiel, 1500 Jahre alt, ist höchst weise und kommt noch aus der griechischen und römischen Tradition. Sie versucht, das Alleinsein des Mönchs mit seinen Kontakten in Ausgleich zu bringen. Im Sinne von Ora et labora – bete und arbeite – soll er kontemplative Zeiten mit Zeiten der Arbeit verbinden. Diese Regel hat Europa geprägt. Sogar Atheisten gehen heute für ein oder zwei Wochen Auszeit ins Kloster und versuchen, in diesem benediktinischen Tagesablauf zur Ruhe zu kommen.

Ist die Leidenschaft für Sport und Gesundheit bei vielen Menschen heute zu einer Methode der Selbstoptimierung geworden?

Lütz:

Der Sport- und Gesundheitswahn hat so ein bisschen das religiöse Vakuum gefüllt. Früher glaubten die Leute an den lieben Gott, heute glauben sie an die Gesundheit. Was man früher für den lieben Gott tat – wallfahren, fasten –, tut man heute für die Gesundheit. Ich glaube, dass die Sehnsucht nach dem ewigen Leben die Menschen noch genauso beschäftigt wie im Mittelalter. Nur versuchen sie heute, es durch Gesundheit zu erwerben. Indem sie Diäten machen, durch Parks rennen, sich an Geräten stählen. Leider sterben sie dann aber trotzdem.

Sehen Sie als Katholik hier das Erbe der „protestantischen Arbeitsethik“, die in Leistungswut umschlägt?

Lütz:

Der Soziologe Max Weber hat darüber das berühmte Buch „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ geschrieben. Die Calvinisten glaubten, dass man durch eigene, gute Werke nichts erreichen könne, sondern dass nur die Gnade Gottes zähle. Um das Unerträgliche dieser Lehre zu ertragen, haben sie einen psychologischen Ausweg gefunden: Ob man von Gott erwählt ist, kann man am wirtschaftlichen Erfolg erkennen. Das hat calvinistisch orientierte Staaten geprägt, und es hat zu einem Kapitalismus geführt, der sich nicht mit Luxus und Zigarre präsentiert, sondern ganz asketisch und pflichtbewusst. Dessen Leistungsgedanke ist wieder zu uns herübergeschwappt. Auch die heutigen Fernseh-Castingshows leben davon: Wenn man Erfolg hat, gehört man zu den Auserwählten der Jury, die da sitzt wie die Heilige Dreifaltigkeit. Viele religiöse Fragmente finden sich heute im Gesundheits-, Schönheits- und Leistungswahn wieder.

Wir laufen also Schein-Idealen hinterher?

Lütz:

Wir bewegen uns heute in vielen künstlichen Welten. In der Psychowelt, der Wissenschaftswelt, der Cyber-Welt oder der Medienwelt. Die Gefahr besteht darin, dass wir diese Welten für realer halten als unser echtes Leben. Es gibt Menschen, die leben in der „Lindenstraße“, und wenn da jemand stirbt, sind sie tief betroffen. Sie merken aber nicht, dass gleichzeitig ihr Nachbar real im Sterben liegt. Sie empfinden das als weniger wirklich, weil ihr Nachbar nicht im Fernsehen ist. Das meine ich gar nicht ironisch. Die Fernsehwelt hat für manche mehr Realitätsmacht als das reale Leben.

In Ihrem Buch „Bluff – die Fälschung der Welt“ warnen Sie davor, dass wir uns in den Kunstwelten verlieren und darüber unser eigentliches Leben verpassen. Was meinen Sie damit?

Lütz:

In der Wissenschafts-, Medien-, Finanzwelt kommen die Farben unseres existenziellen Lebens gar nicht vor, Liebe ist da nur ein Fernsehgefühl, ein Forschungsfeld. Aber wirklich verlieben kann ich mich nur im eigenen Leben und in einen realen Menschen. In unserem existenziellen Leben geht es um Liebe, Gut und Böse, den Sinn des Lebens, Gott. Dieses Leben müssen wir wieder wichtiger nehmen als die künstlichen Welten. Wenn man Finanzerfolge für das eigentliche Leben hält, wenn der DAX meine Stimmung bestimmt – dann stimmt was nicht. Auch die Psychowelt ist eine künstliche Welt. Wir Psychotherapeuten können ganz gut psychische Krankheiten heilen, wir haben in der Regel ein gutes Abitur gemacht, viele dicke Bücher gelesen und sitzen dann jahrzehntelang mit gestörten Menschen in kleinen hässlichen Zimmern. Dabei sammelt man keine Lebenserfahrung. Wer die braucht, sollte zu einem alten Mütterchen in Dithmarschen gehen, die mit Mühe fünf Kinder großgezogen hat, von denen eines vielleicht schon gestorben ist. Die weiß mehr vom Leben als jeder habilitierte Psychotherapeut.

Wie entschleunigen wir unser Leben also am besten?

Lütz:

Wir sollten wieder Zeiten finden, in denen wir zwecklos oder, wie man früher sagte, „müßig“ leben. In Deutschland sagt man: „Müßiggang ist aller Laster Anfang“. Das ist Unsinn. Muße war für die Griechen und die Römer der Höhepunkt des Lebens. Wir arbeiten, um Muße zu haben, hat Aristoteles gesagt, denn in der Muße liegt das Glück. Wenn ich wüsste, dass ich in zwei Wochen sterben muss, werde ich keine wissenschaftlichen Studien lesen, nicht vor der Glotze abhängen, nicht die Börse beobachten. Sondern ich werde noch mal Menschen treffen, die mir etwas bedeuten. An wichtige Orte zurückkehren. Wunderschöne Musik hören oder Kunst betrachten, vielleicht noch mal ins Fußballstadion gehen. Ich will dazu anregen, so etwas schon vor der Sterbephase zu tun. Wir können in einen Wald gehen, ohne zu laufen, ohne alles zu fotografieren – sondern einfach, um diese unwiederholbare Stunde im Wald zu genießen, zu riechen, zu schmecken, zu erleben und uns klar zu machen: Die Zeit, die ich hier erlebe, ist einmalig.