Urlaub ist schön, aber der Weg dorthin manchmal ein Horrortrip: Etwa jeder zehnte Mensch ist anfällig für die Reisekrankheit. Vielen wird sogar im Kino schlecht – etwa beim Schauen von 3D-Filmen. Mit Stroboskopen, Rettungsinseln und seekranken Fischen suchen Forscher nach den Ursachen der Übelkeit – und nach Gegenmitteln.

Münster Manchmal wünschen sich Schiffsreisende nichts weniger als den Tod. „Ich musste die Leute schon mit Leinen am Schiff festbinden, weil sie sich von Bord stürzen wollten“, erzählt Christian Draja. Der 37-Jährige fuhr jahrelang als Berufsskipper mit Segelschiffen zur See, erlebte meterhohe Wellen und nicht enden wollende Stürme. Deshalb kennt der Seemann die zum Teil dramatischen Folgen der Seekrankheit. Selbstmordgedanken sind nicht selten, Selbstaufgabe und völlige Verzweiflung ganz normal: „Auf der Biskaya wollte einer mit dem Rettungshubschrauber geborgen werden. Der hätte jeden Preis bezahlt: ‚10 000 Euro? Ist mir scheißegal! Ich zahle alles.‘“

Eine Schiffsreise kann den Körper ziemlich aus der Bahn werfen. Anfangs bemerken viele Passagiere die Seekrankheit nicht. Sie werden zunächst müde und lustlos. Dann folgen Schweißausbrüche – und erst später Übelkeit und Brechreiz. Die Seekranken können teilweise tagelang nichts essen oder trinken, ohne sofort wieder „die Fische zu füttern“. Seekrankheit, Flugkrankheit, Übelkeit im Auto oder in der Bahn und sogar die Übelkeit im Kino haben den gleichen Ursprung. US-Forscher nennen das Phänomen „motion sickness“, Bewegungskrankheit. Im deutschen Sprachraum kennt man das Leiden als Reisekrankheit. Die verschiedenen Formen nennen Mediziner hierzulande Kinetosen.

Der Grund für das Unwohlsein ist eine Verwirrtheit des Gehirns, das von den Sinnesorganen unterschiedliche Informationen erhält. „Wir haben drei Systeme, die uns über die Bewegung des eigenen Körpers im Raum informieren“, erklärt der Mediziner Prof. Frank Schmäl aus Greven bei Münster. „Die Augen, das Gleichgewichtsorgan im Innenohr und das sogenannte propriozeptive System, unter anderem Druckrezeptoren an der Fußsohle oder Sensoren in der Haut, die zum Beispiel den Luftzug einer Bewegung spüren.“ Liefern alle drei Systeme die gleiche Information an das Gehirn, ist alles in Ordnung. Erhält das Hirn aber widersprüchliche Signale, schaltet es auf Alarmbereitschaft.

„Ganz schlimm für Reisekrankheiten ist zum Beispiel Autofahren im Stau“, sagt Schmäl. „Wenn man dabei auf dem Beifahrersitz liest, nimmt das Auge das ständige Anfahren und Abbremsen nicht wahr. Es meldet Stillstand, während die anderen Systeme dem Hirn sagen: Wir sind in Bewegung.“ Und das führt zu Verwirrung in der Schaltzentrale. Schmäl leitet die Schwindelambulanz im HNO-Zentrum Münsterland und erforscht die Reisekrankheit seit Jahren. In der Fachzeitschrift „Pharmacology“ hat er unlängst den Forschungsstand zur Reisekrankheit zusammengefasst. Demnach haben Frauen ein höheres Risiko als Männer. Besonders oft kämpfen Kinder zwischen zwei und zwölf Jahren mit der Übelkeit, Babys und Menschen über 50 werden hingegen nur sehr selten reisekrank. Das liegt daran, dass bei Babys der Gleichgewichtssinn noch nicht vollständig ausgeprägt ist. Sinneskonflikte sind in diesem Stadium also alltäglich und werden vom Gehirn nicht als Bedrohung wahrgenommen. Menschen über 50 profitieren dagegen in der Regel vom Alterungsprozess. Mit den Jahren bilden sich im Innenohr unter anderem die Otolithen zurück. Diese kleinen Kristalle ermöglichen es dem Gleichgewichtsorgan, Schwerkraft und Beschleunigung zu registrieren. Ist die Wahrnehmung nicht mehr so fein, sinkt das Risiko für die Reisekrankheit.

Statistisch haben etwa fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung ein erhöhtes Risiko für die Reisekrankheit, fünf bis 15 Prozent sind hingegen unempfindlich. Laut Schmäl werden neun von zehn Menschen in den Industrieländern mindestens einmal im Leben reisekrank. Warum Frauen so anfällig sind, ist laut Schmäl allerdings noch ein Rätsel. Zwar hätten manche Forscher einen Zusammenhang zwischen dem weiblichen Hormonhaushalt und der Anfälligkeit für die Reisekrankheit entdeckt. Andere Mediziner fanden jedoch keinen Einfluss der verschiedenen Stadien des weiblichen Zyklus auf die Ausprägung der Krankheit.

Aber nicht nur Menschen leiden an Seekrankheit. Die Übelkeit befällt auch Hunde, Katzen, Kühe, Pferde und sogar Fische. „Forellen zum Beispiel übergeben sich, wenn sie in Transporttanks über längere Strecken gefahren werden“, erklärt Prof. Reinhard Hilbig von der Universität Hohenheim. „Deshalb dürfen sie zwei Tage vor dem Transport nicht mehr gefüttert werden.“ Der Zoologe untersucht Kinetosen vor allem an Buntbarschen. Er hat die Tiere sogar schon in den Weltraum geschossen, um zu beobachten, was die Schwerelosigkeit mit ihnen anstellt. „Das Innenohr bei Fischen ist – zumindest was das Gleichgewicht betrifft – ganz ähnlich aufgebaut wie bei Menschen“, erklärt er. Deshalb könne die Humanmedizin Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung mit Buntbarschen gewinnen.

Warum reagiert das Gehirn auf widersprüchliche Informationen der Sinnesorgane mit Übelkeit und Erbrechen? Mediziner gehen derzeit von einer Vergiftungstheorie aus: „Der Körper agiert so, als wenn er vergiftet worden wäre, und wehrt sich dagegen“, erklärt Schmäl. Streng genommen ist die Reisekrankheit deshalb auch keine Krankheit, sondern ein Schutzmechanismus. „Bei einer Vergiftung will der Körper giftige Stoffe aus dem Magen herausbekommen – daher Übelkeit und Erbrechen. Mit einem schnelleren Herzschlag und Schweißausbrüchen versucht der Organismus außerdem das Blut von Giftstoffen zu reinigen.“ Welcher evolutionäre Sinn hinter diesem Mechanismus steckt, bleibt unklar. Die Kinetose kann laut Schmäl jedoch als Warnsignal für den Körper interpretiert werden, sich aus einer bedrohlichen Situation zurückzuziehen. Klar ist jedenfalls: Für Reisen per Schiff, Flugzeug oder Auto ist der menschliche Körper eigentlich nicht gebaut.

Die Reisekrankheit lasse sich mit Hilfsmitteln überlisten, versprechen Hersteller und preisen verschiedenste Präparate an – von Ingwer-Tee bis zu Akupressur-Bändern am Handgelenk. Eine Firma bietet sogar spezielle Brillen an, in denen eine Flüssigkeit zwischen doppelwandigem Brillenglas einen künstlichen Horizont erzeugt. So soll das Auge immer die tatsächliche Lage im Raum wahrnehmen und die gleichen Informationen ans Hirn senden, wie die anderen Sinnesorgane. Medizinische Belege für die Wirksamkeit dieser Mittel gibt es jedoch kaum. Zur Akupressur liegen widersprüchliche Studien vor, die Brillen wurden bisher kaum untersucht. Ingwer hilft zwar erwiesenermaßen gegen Übelkeit nach Operationen oder in der Schwangerschaft, ein eindeutiger Beleg für die Wirksamkeit bei Reisekrankheit fehle jedoch bislang, sagt Schmäl.

Der HNO-Arzt rät, vor Reisen auf Alkohol, Zigaretten und Kaffee zu verzichten: „Im Gleichgewichtssystem gibt es Nikotin- und Koffein-Rezeptoren. Alkohol wirkt enthemmend auf unser Gleichgewichtssystem. Wenn jemand, der zu Reisekrankheit neigt, während seines Fluges zum Beispiel zu viel Rotwein trinkt, wird das Ganze nur noch schlimmer.“ Wenn das nicht reicht, rät Schmäl zu Scopolamin-Präparaten. „Da gibt es Pflaster, die den Stoff nach und nach abgeben. Scopolamin dämpft die Empfindlichkeit der Hirnregionen, in welche die Gleichgewichtsinformationen einlaufen. Eine weitere Gruppe von Medikamenten sind Antihistaminika, also Histamin-Blocker. Histamin beschleunigt zum einen die Reizübertragung und regt zudem auch das Brechzentrum an. Bei Reisekrankheit wird es vom Körper verstärkt gebildet. Antihistaminika verhindern das, können aber müde machen, weil Histamin auch den Schlaf-Wach-Rhythmus steuert.

Auch die Bundeswehr sucht nach Mitteln gegen Seekrankheit. Am Schifffahrtsmedizinischen Institut der Marine hat Andreas Koch mit Vitamin C experimentiert. „In der Allergologie wird viel mit Vitamin C gearbeitet“, erklärt Koch. „Wenn der Körper allergisch auf etwas reagiert, wird viel Histamin freigesetzt. Mit Vitamin-C-Präparaten kann der Histaminspiegel gesenkt werden.“ Erste Versuche mit Probanden im Wellenbad liefen vielversprechend. Detaillierte Resultate sollen demnächst veröffentlicht werden.