Meeresforscher analysieren künftige Entwicklung: Nicht nur kalkbildende Organismen leiden darunter, warnen sie. Was der Mensch hautnah spüren könnte, sei ein Blaualgeneffekt.

Kiel/Bremen. Der Ozean ist ein schwieriger Patient. Manchmal wappnet er sich mit Eisschollen und hohen Wellen, wenn Meeresbiologen zur Diagnose anrücken. Doch für Ulf Riebesell vom Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel hat sich die Mühe gelohnt. Gerade erst, Ende Juni, ist er von einem Langzeitexperiment im schwedischen Gullmarfjord zurückgekehrt. Im Gepäck trägt er einen Datenschatz, der einen Blick in die mögliche Zukunft der Meere erlaubt. Riebesell hat in der Nordsee mit einem internationalen Team fünf Monate lang den Ernstfall simuliert: den Ozean des Jahres 2100 – mit einem pH-Wert um 7,7.

Die Zahl ist weit weniger griffig als die Daten zur Erderwärmung, die viele Klimaforscher in Modellen prognostizieren: zwei Grad mehr, vier Grad mehr, sechs Grad mehr. Solche Szenarien lösen inzwischen Bilder im Kopf aus: Eisschmelze, Überflutungen, Wüsten. Dagegen löst das Stichwort pH-Wert oft nur vage Erinnerungen an den Chemieunterricht aus. Eine Skala von null bis 14, die angibt, ob eine Flüssigkeit sauer, neutral oder basisch ist. Ja und? Bei vielen Wissenschaftlern schrillen bei einem pH-Wert von 7,7 im Ozean jedoch die Alarmglocken. Denn Meerwasser hatte vor der Industrialisierung einen Durchschnittswert von 8,2. Die bange Frage lautet: Kann sich das Ökosystem Meer an diesen rapiden Wechsel anpassen? „Es ist eine unterschätzte Gefahr“, sagt Ozeanforscher Riebesell.

Das mag auch daran liegen, dass die Zahlen die Dramatik der Entwicklung verschleiern. Seit dem Jahr 1800 sank der pH-Wert der Ozeane von 8,2 auf 8,1. Tückisch ist, dass das nach wenig klingt. Doch hinter den Ziffern verbergen sich Logarithmen. 0,1 Einheiten weniger bedeuten in der Realität der Meere, dass ihr Wasser schon um 30 Prozent saurer geworden ist. Im Jahr 2100 könnte es bis zu 150 Prozent saurer sein als heute. Insgesamt liegt es damit immer noch im basischen Bereich, also über 7. Auch das kann beim Begriff „Ozeanversauerung“ erst einmal verwirren.

In den letzten 200 Jahren pustete der Mensch mit dem zunehmenden Verbrennen fossiler Energieträger wie Kohle, Gas oder Holz so viel mehr Kohlendioxid in die Atmosphäre, dass nicht nur die Temperatur ansteigt. Über die Luft nimmt auch der Ozean höhere Dosen des Treibhausgases auf. In Verbindung mit Wasser reagiert Kohlendioxid zu Kohlensäure. Bei diesem Prozess werden auch Wasserstoffionen frei. Das Meer würde noch saurer werden, wenn die sich nicht mit Karbonationen verbinden würden, die es reichlich im Ozean gibt. Das Problem: Genau diese Karbonat-Ionen brauchen kalkbildende Lebewesen wie Plankton, Algen, Muscheln, Schnecken, Seeigel oder Korallen für Wachstum und Schutz.

Für Jelle Bijma, Geochemiker am Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven, wird es nun ein bisschen leichter mit dem Erklären. „Wenn man sein Badezimmer putzt, nimmt man Säure, um Kalkflecken aufzulösen“, sagt er. Im Meer aber ist dieser Wisch-und-weg-Effekt alles andere als nützlich. Wird Ozeanwasser saurer, droht Meeresbewohnern mit Kalkbestandteilen die Auflösung ihrer Schutzhüllen oder Stützkorsetts. Da Korallenriffe die Kinderstube vieler Meeresbewohner sind, könnte das weitreichende Folgen haben. „Beim Great Barrier Reef vor Australien ginge es um nicht weniger als 70 Prozent der Biodiversität in diesem Gebiet“, sagt Bijma. Noch heftiger könne die Versauerung die Polarmeere treffen. „Denn Kohlendioxid löst sich in kaltem Wasser besonders gut.“

Selbst Fische zeigten im Labor Empfindlichkeiten. Junge Clownfische schwammen zum Beispiel auf ihre Feinde zu, statt vor ihnen zu fliehen, weil ihr Hör- und Orientierungssinn litt. Laborstudien reichen aber nicht, um das ganze Ausmaß der Versauerung abschätzen zu können. Was passiert zum Beispiel mit der Nahrungskette, wenn einzelne kalkbildende Arten sich nicht mehr in ihrer ökologischen Nische behaupten können und gar nicht erst heranwachsen? Auch deshalb haben die Geomar-Forscher zum dritten Mal ein Experiment im Meer gestartet – nach der Arktis und der Ostsee nun in der Nordsee westlich von Schweden.

Dafür verteilten sie große Schwimmkörper aus Kunststoff wie Riesenreagenzgläser im Fjord. „Wir haben die Folien wie Vorhänge 17 Meter tief heruntergelassen und später geschlossen“, berichtet Riebesell. „Alles, was im Meerwasser vorkommt, war darin eingeschlossen.“ Mesokosmen nennen die Forscher ihre Folientanks. In fünf von ihnen senkten sie den pH-Wert auf 7,7 – und katapultierten die Meeresbewohner damit in den Ozean des Jahres 2100. Fünf weitere Tanks dienten mit dem heutigen Säuerungsgrad von 8,1 als Kontrolle.

Was blüht dem Meer 2100? Viele Einzeldaten müssen noch ausgewertet werden. Doch Trends kann Riebesell schon nennen: „Verlierer sind die, die Kalk bilden.“ Einige Organismen seien dann nicht mehr lebensfähig. Andere müssten für den Erhalt ihrer Kalkstrukturen mehr Energie aufbieten, wieder andere kriegen vielleicht gerade noch die Kurve durch Anpassung. Dazu kommt, dass die Erderwärmung mit wärmerem Meerwasser für zusätzlichen Stress sorgen kann. Bei Korallen kann sich das Risiko dadurch zum Beispiel addieren. Ähnlich düstere Prognosen gibt es für alle Lebewesen, die im Ei-, Larven- und Jungtierstadium eine schlechte pH-Wert-Regulation haben.

Und auf der Gewinnerseite? Hier zeigt sich im Schweden-Experiment erneut, dass die winzigsten Lebewesen die Nase vorn haben. „Piko-Phytoplankton wächst schneller und kriegt mehr Biomasse“, berichtet Riebesell. Doch dem Ökosystem bringt das verstärkte Wachstum dieser Minis keinen Gewinn. „Die Mehrproduktion findet an der untersten Stufe der Nahrungskette statt. Von diesem Futter wird relativ wenig hochgereicht“, sagt Riebesell. Zu viel werde schon von Mikroorganismen wie Bakterien veratmet, verbrannt oder abgebaut. „Das kommt gar nicht erst bis zu den Fischlarven.“

Nach ihren drei Ozeanexperimenten können die Wissenschaftler nun abschätzen, dass wohl weniger effiziente Nahrungsketten im Meer zu befürchten sind – mit Auswirkungen für die Fische und damit auch für die Fischerei. Was der Mensch hautnah spüren könnte, sei ein Blaualgeneffekt, ergänzt Riebesell. Denn auch diese profitierten von der saureren Umgebung. Da sie zum Teil giftig sind, könnten größere Blüten das Badevergnügen im Meer trüben.