Fiepen, Pfeifen, Rauschen – Ohrgeräusche können Menschen in den Wahnsinn treiben. Mit einer individuellen Musiktherapie wollen Forscher die Beschwerden lindern. Erste Studien sind vielversprechend.

Münster/Hamburg/Berlin. „Er ist schrill und pulsierend, nur nachts wird er leiser. Wenn ich den Kopf oder den Kiefer bewege, wird das Zischen zu einem lang gezogenen, sehr lauten Ton. Ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen. Mein Leben ist für mich nur noch Folter.“

Die Qualen, die eine Tinnitus-Patientin im Internet beschreibt, können wohl sehr viele Menschen nachvollziehen: Drei Millionen leiden hierzulande unter chronischen Ohrgeräuschen, schätzt die Deutsche Tinnitus-Liga. Die an der Berliner Charité entstandene Deutsche Tinnitus-Stiftung geht sogar von mehr als elf Millionen Menschen aus, die in Deutschland am Ohrensausen leiden. Drei Millionen hätten besonders starke Beschwerden.

Seit vielen Jahren suchen Forscher nach einem umfassenden Mittel gegen den Tonterror – und bei einigen ist Ernüchterung eingekehrt. „Man sollte nach dem jetzigen Wissensstand keine Heilung erwarten», sagt etwa Prof. Birgit Mazurek, Leitende Ärztin des Tinnituszentrums der Berliner Charité. Auch der von einigen als „Tinnitus-Papst“ bezeichnete Dr. Gerhard Hesse, der bereits 1992 am Krankenhaus Bad Arolsen eine Klinik zur Behandlung des Ohrenleidens gründete, warnt vor großen Versprechen. „In naher Zukunft wird es nicht den Schalter geben, der den Tinnitus abschaltet.“

Als die wahrscheinlich wirksamste Behandlung bei einem chronischen Tinnitus gilt bisher die Psychotherapie. Durch sie können die Betroffenen lernen, die Ohrgeräusche zu akzeptieren – und schließlich zu ignorieren. Womöglich lassen sich die Beschwerden aber auch durch eine individuelle Musiktherapie reduzieren, die ein Team um Prof. Christo Pantev vom Institut für Biomagnetismus und Biosignalanalyse am Uniklinikum Münster erprobt. Die Forscher bauen dabei auf der Erkenntnis auf, dass Tinnitus nicht im Innenohr entsteht, sondern sehr wahrscheinlich mit einer Fehlschaltung im Gehirn zusammenhängt, die auf einen meist im Innenohr entstandenen Schaden der Hörbahn zurückgeht.

Die in der Hirnrinde sitzenden Nervenzellen empfangen elektrische Signale direkt aus dem Hörnerv. Die Umwandlung des akustischen in ein elektrisches Signal entsteht in den hochsensiblen Haarzellen des Innenohrs. Wenn einige dieser Haarzellen durch Lärm oder Stress Schaden nehmen und ausfallen, versuchen ihre Nachbarzellen, den Verlust durch Überaktivität auszugleichen. Die Nervenzellen in der Hörrinde beginnen, eigene Signale abzufeuern und verstärken bestimmte Frequenzen trotz fehlender akustischer Reize von außen. Diese Entladungen und Spontanaktivitäten lassen vermutlich das störende Geräusch entstehen, vergleichbar mit dem brummenden Grundton eines laut aufgedrehten Verstärkers bei einer Stereoanlage.

An dieser neuronalen Fehlfunktion wollen Christo Pantev und sein Team ansetzen, um das konstante Klingeln im Kopf zu reduzieren. Weil die Hörzellen angeordnet sind wie die Töne auf einer Klaviertastatur und eigene Frequenzbereiche belegen, können Fachärzte die Tinnitus-Frequenz relativ genau bestimmen, die zwischen 400 und 13.000 Hertz liegen kann. Die Forscher um Pantev filterten von Patienten festgelegte Tinnitus-Frequenzen aus Musikstücken heraus. Dieser Teil des Klangteppichs hätte normalerweise die Tinnitus-Nervenzellen im Gehirn der Patienten angesprochen, so die Theorie der Forscher. Stattdessen wurden nur die Nachbarzellen gereizt und die Tinnitus-Neuronen dadurch gehemmt. Werde dieses Prinzip der „lateralen Hemmung“ oft genug wiederholt, könne das Pfeifen durch Musik reduziert werden, sagt Pantev. „Wichtig ist, dass sie die Musik, die sie hören, mögen, also aufmerksam zuhören.“

Als Pantev 2009 im Fachjournal „PNAS“ berichtete, dass sich die Intensität der Ohrgeräusche durch ein solches Training womöglich um 25 Prozent reduzieren lässt, konnte er auf nur 27 Probanden verweisen. Inzwischen laufen mehrere Studien zur Musiktherapie mit Hunderten Teilnehmern. „Mir ist klar, dass wir möglicherweise keine 100-prozentige Treffsicherheit haben werden“, sagt Pantev. Doch die Hinweise, dass zumindest einem Teil der Betroffenen mithilfe des neuen Ansatzes geholfen werden könnte, seien nicht zu übersehen.

Über drei Monate und täglich ein bis zwei Stunden sollen Pantevs Probanden gefilterte Musikstücke hören. Für die Therapie können sie eine Musikbibliothek von mehr als 300 Titeln anlegen. „Ob das ein Rauschen, Zwitschern oder Gesang ist oder eine Gitarre, ist letztendlich egal. Hauptsache, der Betroffene hört es gerne und das Frequenzspektrum der Musik passt zu seiner Tinnitus-Frequenz“, sagt Jörg Land, der in Hamburg mit Toningenieuren eine Internet-Software zur Aufbereitung von Musikstücken entwickelt hat. Tinnitracks, wie das Programm heißt, prüft jeweils, ob die von den Patienten hochgeladenen Musikstücke für die Behandlung geeignet sind. Grundlage für das kostenpflichtige Programm (die gesetzlichen Krankenkassen übernehmen die Kosten nicht) waren Pantevs Forschungsergebnisse.

Land und sein Team entwickelten Tinnitracks nicht zuletzt deshalb, weil einer der Hamburger selbst an leichten Ohrgeräuschen leidet. Sobald die Testphase abgeschlossen ist, sollen Patienten voraussichtlich ab Ende April ihre eigene Musik filtern lassen können. Im Grunde lasse sich mit dem Programm jede Audiospur aufbereiten. Den größten Nutzen versprechen sich Verfechter der Hörtherapie allerdings von den Lieblingstiteln der Behandelten.

Manche greifen zu Rauschgeneratoren, um den Tinnitus zu übertönen

„Das hat natürlich emotional auch einen guten Effekt“, sagt Dr. Gerhard Hesse vom Krankenhaus Bad Arolsen. Die reine Stimulation durch Töne, die einige Hersteller technischer Apparate anpreisen, sei therapeutisch gesehen wenig sinnvoll. Trotzdem greifen viele Betroffene zu den Rauschgeneratoren, weil sie das Fiepen im Kopf nicht mehr ertragen. Um einschlafen zu können, stellten manche Patienten gar das Rauschen zwischen zwei Sendern am Radio ein, um den Tinnitus zu übertönen.

Mit der Technik aus Münster hingegen lernten Patienten, „dass das Herausfiltern störender Geräusche wieder gelingt. Das ist allemal ein guter Ansatz“, sagt Hesse. Denn die menschliche Wahrnehmung filtert ständig: das als unwichtig empfundene Rattern der U-Bahn, bestimmte Geschmäcker oder ein ekelerregender Gestank, der im ersten Moment oft sehr viel unangenehmer wirkt als nach einigen Minuten. So auch in der Hörtherapie, erläutert Hesse mit einem Beispiel: „Sie hören Musik nicht nur mit der Wirkung als angenehmen Gesamteindruck, sondern sie versuchen etwa, im Sinfoniekonzert nur die Oboen zu hören. Dann müssen sie alle anderen Instrumente wegfiltern.“

Die Aufmerksamkeit vom Tinnitus weglenken und mit dem Ton im Kopf umgehen lernen: Das „Retraining“ gilt an vielen Kliniken als Therapie der Wahl. Inzwischen kommen dort auch hörtherapeutische Ansätze zum Einsatz, gemischt mit psychotherapeutischen Verfahren. An der Berliner Charité soll Hörtraining beim Entspannen helfen und das Gehör Schritt für Schritt wieder die Geräuschvielfalt der Umwelt erlernen. 75 bis 80 Prozent der Patienten konnten so ihr Phantomgeräusch dauerhaft aus dem Kopf verdrängen, sagt Prof. Birgit Mazurek, Leitende Ärztin des Tinnituszentrums.

Schon bald sollen hörtherapeutische Ansätze auch in die medizinische Leitlinie zur Behandlung des Ohrensausens einfließen. Unter Federführung der HNO-Gesellschaft arbeiten HNO-Ärzte, Psychologen, Neurologen und andere Mediziner an einem gemeinsamen Standard für Diagnostik und Therapie. „Wirklich bewiesen sind bisher nur diese kognitiv verhaltenstherapeutischen und hörtherapeutischen Ansätze. Alles andere ist spekulativ“, sagt Gerhard Hesse, der selbst in der Kommission für die Leitlinie sitzt.

Durchblutungsfördernde Medikamente, die HNO-Ärzte beim Klingeln im Ohr teils verschreiben, sind der Kommission zufolge ein veralteter und nicht unbedingt wirksamer Ansatz. An der Charité habe sich in einer Studie gezeigt, dass Potenzmittel, die der Durchblutung einen kräftigen Schub verleihen, Tinnitus überhaupt nicht lindern konnten. Antidepressiva seien da schon wirksamer. „Nur behandeln die nicht den Tinnitus, sondern die Begleiterscheinung“, sagt Hesse. Auch für die Wirksamkeit von Cortison gebe es bis heute keine evidenzbasierten Untersuchungen.

Hesse hofft auch, dass mit der neuen Leitlinie die Scharlatanerie im Internet etwas abnimmt. Denn dort werden seit Jahren etliche Geräte und Präparate angepriesen, die womöglich große Hoffnungen wecken, wissenschaftlich aber auf wackligen Füßen stehen. Sie können Tinnitus-Patienten nicht nur viel Geld kosten, sondern auch kostbare Zeit. Denn je früher ein Tinnitus behandelt wird, desto größer sind die Erfolgschancen. Wird das Fiepen, Pfeifen und Rauschen chronisch, beginnt ein langer Leidensweg.