Ob als Nahrungsmittelergänzungsstoffe oder Energielieferanten: Forscher setzen vermehrt auf das grüne Wunder aus der Röhre.

Hamburg. Sie sind winzig klein, oft grün und gelten als potenzielle Rohstoff- und Energielieferanten der Zukunft: Mikroalgen. Unter diesen Begriff fallen sowohl mikroskopisch kleine einzellige Süßwasseralgen als auch Bakterien, die Fotosynthese betreiben (Cyanobakterien). Forscher in Kiel und Hamburg arbeiten daran, die produktiven Winzlinge mithilfe von biotechnologischen Verfahren für den Menschen nutzbar zu machen und referierten darüber auf einem Expertenforum der TuTech Innovation GmbH in Harburg.

Mikroalgen gibt es wie Sand am Meer. Sie siedeln auf Eis und in heißen Quellen, in den Meeren und überall dort, wo es feucht genug für sie ist. Etwa 100.000 Arten sind bislang beschrieben, vielleicht zehn Prozent des gesamten Artenreichtums. Doch höchstens 20 von ihnen werden bereits technisch genutzt. Algenspezialisten sind davon überzeugt, dass hier ein riesiges noch ungenutztes Potenzial liegt, das es mithilfe von sogenannten Fotobioreaktoren (Reaktoren, in denen mithilfe von Licht Biomasse produziert wird) zu erschließen gilt.

Einer der entsprechenden Algenforscher ist Prof. Rüdiger Schulz vom Botanischen Institut der Christian-Albrechts-Universität Kiel. "Die größte Mikroalgenkulturanlage in Deutschland steht in Klötze in der Altmark. Sie produziert mit der für Lebensmittel zugelassenen Art Chlorella Nahrungsmittelergänzungsstoffe. Der Ertrag liegt bei 50 bis 100 Tonnen Trockenmasse je Hektar und Jahr. Das ist deutlich mehr als beim Energiemaisanbau in Schleswig-Holstein mit 20 Tonnen Trockenmasse pro Hektar und Jahr."

Der Algenwinzling wächst in Klötze in einem 500 Kilometer langen Glasröhrensystem, das in einem 1,2 Hektar großen Gewächshaus untergebracht ist. Dadurch wird die Algenkultur optimal mit Sonnenlicht versorgt; es gibt keinen dunkleren Bereich, wie er in tieferen Teichanlagen vorkommt. Doch im Winter stehen die Röhren leer: Es lohnt sich nicht, die Treibhausanlage so zu beheizen, dass die kälteempfindlichen Insassen ausreichend produktiv bleiben. Deshalb steht die Anlage von Oktober bis März still.

Den Mikroalgen, die ganzjährig in der Pilotanlage des Energieversorgers E.on Hanse in Hamburg-Reitbrook leben, ist es im Sommer eher zu heiß. "Am schönsten wäre es, Arten zu finden, die sowohl bei kühleren als auch bei heißen Temperaturen gut wachsen - und dann auch noch verwertbare Substanzen produzieren", sagte Rüdiger Schulz. Deshalb machten die Kieler Forscher Wachstumsversuche und testeten verschiedene Arten bei vier, 13 und 20 Grad. Die Probanden kamen aus der Mikroalgen-Kultursammlung der Universität Göttingen. Mit gegenwärtig 2600 Stämmen von 1500 Arten ist die Sammlung eine der drei größten der Welt.

Parallel entstand in Trappenkamp bei Bad Segeberg eine Versuchsanlage zur "industriellen Winterkultivierung von kryophilen (kälteunempfindlichen) Mikroalgen". Dort liegt das Forschungszentrum des Unternehmens Sea&Sun Organic, das die neue Rohstoffquelle anzapfen will. Dr. Karsten Pankratz aus der Unternehmensleitung zählt denkbare Anwendungsgebiete auf: Die in dem Bioreaktor produzierte Biomasse könnte (wie in Klötze) als Nahrungsergänzungsmittel vermarktet werden, in der Kosmetikindustrie, als Feinchemikalie oder in der pharmazeutischen Industrie Verwendung finden, ebenso als Futtermittelzusatzstoff oder Fischfutter für Aquaristik und Aquakulturen.

Auch als Energieträger lassen sich die wachstumsstarken Kleinstlebewesen nutzen. "Mikroalgen sind hervorragend mit Biogasanlagen zu kombinieren", sagte Rüdiger Schulz. Je nach Art könnten sie auch pflanzliche Öle liefern oder zukünftig womöglich sogar Wasserstoff produzieren. Schulz: "Das funktioniert allerdings nur mit genetisch modifizierten Organismen, da die Algen ihre Energie nur ungern abgeben." Alle Bewohner von Fotoreaktoren haben eines gemein: Sie binden Kohlendioxid und produzieren Sauerstoff, können damit (in geringem Maße) das Klima entlasten oder Abgase reinigen.

Während die meisten Mikroalgen-Spezialisten nach idealen Arten suchen und effizient Fotoreaktoren entwickeln, gehen Hamburger Forscher noch einen Schritt weiter: Das Team um Prof. Wolfgang Streit vom Biozentrum Klein Flottbek untersucht winzige Mitbewohner der Algen: Bakterien. Verschiedene Bakteriengesellschaften bilden in den Reaktoren sogenannte Biofilme.

Biofilme gibt es auch beim Menschen, sowohl unerwünschte (Zahnbelag) als auch erwünschte (Schutzfilm der Haut). Ähnliches gilt für Bioreaktoren: Die "guten" Bakterien versorgen die Mikroalgen mit dem Vitamin B12, einige auch mit B1, weil die Mikroalgen die Vitamine nicht selbst herstellen können. Andere Biofilme hemmen dagegen das Algenwachstum, etwa wenn sie an den Glaswänden siedeln und damit den Kulturen Licht nehmen.

Streit und Kollegen fanden rund 30 verschiedene Bakterien in Bioreaktoren. Die Mikroorganismen kamen zusammen mit den Mikroalgen in das System und sind dort weder mit Pestiziden noch mit Antibiotika wieder herauszubekommen. Immerhin: Keines der gefundenen Bakterien ist pathogen (potenziell krankmachend).

Im nächsten Schritt analysierten die Wissenschaftler das gesamte Genom der 30 Arten und versuchten, die gefundenen 130.000 Gene einzelnen Arten zuzuordnen. Von immerhin 55.000 Genen kennen sie inzwischen die Funktion.

Einige Organismen seien "genetisch zugänglich", so Streit, ihr Erbgut also manipulierbar. Dies könne der Schlüssel sein, um mithilfe der Biofilme die Mikroalgenproduktion zu verbessern. Streit: "Wir verfolgen derzeit drei Ansätze. Erstens: Neue Stoffwechselwege in Organismen könnten dazu führen, dass neue Wertstoffe in Bioreaktoren produziert werden können. Zweitens: Wenn es gelingt, vorhandene Stoffwechselwege wie die Vitaminproduktion anzukurbeln, könnten die Vitamine entweder direkt vermarktet werden oder aber die Algenproduktion steigern. Drittens könnte das Ausschalten von negativen Eigenschaften den Ertrag des Reaktors erhöhen." Und dadurch mit dazu beitragen, dass die Mikroalgen Karriere machen.