Kniff der Natur: Wie einige Insekten dank spezieller Eiweiße oder Alkohole in ihrem Blut extreme Minusgrade überleben.

Bochum. Organe für Transplantationen, die sich vor einer OP länger als bisher kühlen lassen, ohne Schaden zu nehmen, Lebensmittel, die im Eisfach keinen Gefrierbrand mehr erleiden, Speiseeis, das auch bei einer langen Lagerung nicht mehr kristallisiert und cremig bleibt - spezielle Frostschutzproteine könnten all das möglich machen. Vorbilder für solche Substanzen finden Forscher in der Natur. Nach und nach entschlüsseln sie, mit welchen Tricks viele Tiere ihr Blut auch bei extremen Minusgraden flüssig halten.

Die jüngste Entdeckung machte ein Team um Prof. Martina Havenith von der Ruhr-Universität in Bochum beim Nachwuchs eines Feuerkäfers, von denen es weltweit etwa 140 Arten gibt. Die Larven der in Nordamerika lebenden Art Dendroides canadensis überleben Temperaturen bis minus 30 Grad. Ihr Frostschutz ist zehn- bis 100-mal effektiver als der von arktischen und antarktischen Fischen, die bis zu minus zwei Grad aushalten. Das Geheimnis der Käferlarven: Bestimmte Eiweiße in ihrem Blut verändern die Bewegungen von Wasser - und zögern so dessen Gefrierpunkt hinaus.

Bekannt war bereits, dass aus den Molekülen solcher Anti-Frost-Eiweiße an einer Stelle Reste der Aminosäure Threonin herausragen. Sie fungieren wie ein Haken, mit dem sich die Eiweißmoleküle an winzigen Eiskristallen festhalten. Diese entstehen, wenn Wasser gefriert. Normalerweise würden aus ihnen größere Eiskristalle entstehen, doch eben dieses Wachstum verhindern die angedockten Eiweiße. Sie liegen aber nur in winzigen Konzentrationen vor: Auf einen Milliliter Wasser kommen vier Milligramm Anti-Frost-Eiweiß, das folglich nur einen kleinen Teil der Eiskristalle erwischen kann. Mit diesem Mechanismus allein lässt sich der außergewöhnliche Gefrierschutz der Käferlarven nicht erklären.

Die Forscher um Havenith extrahierten Antifrost-Eiweiße aus dem Blut von Käferlarven und gaben sie in Wasser. Für das menschliche Auge nicht sichtbar, ist Wasser auf molekularer Ebene ständig im Wandel: Die Wasserstoffbrücken jedes Moleküls öffnen und schließen sich bei einer Temperatur von 20 Grad im Takt von einer Billionstel Sekunde. So kommt es zu immer neuen Bindungen zwischen den Molekülen. "Das ist wie in einer Disco, wo man ständig mit jemand anderem tanzen könnte", sagt Martina Havenith.

Sichtbar macht die Bewegungen ein Terrahertz-Spektrometer. Mit dem Licht dieses Geräts durchleuchteten Havenith und ihr Team die Proben mit den Frostschutzproteinen. Dabei stießen sie auf ein verblüffendes Phänomen: Die Proteine bremsen die Bewegungen des Wassers ab. Bleibt man im Bild der Disco, in der einige rot gekleidete Tänzer für die Proteine stehen, die von mehreren Kreisen blau gekleideter Tänzer umgeben sind, die für das Wasser stehen, so verlangsamten bei 20 Grad bis zu sieben Wasserkreise um jedes Protein ihre Bewegung; bei fünf Grad wirkte der beruhigende Einfluss der Proteine sogar bis in die zehnte Reihe der umliegenden Wassermoleküle.

Die Tests zeigten außerdem, dass der Effekt an den Bindungsstellen der Proteine dreimal stärker war als an ihrer abgewandten Seite. "Wir vermuten deshalb, dass es sich wie mit einem Schiff verhält, das einen Hafen ansteuern soll. Das gelingt besser, wenn die See ruhig ist", sagt Martina Havenith. Mit anderen Worten: Indem die Frostschutzproteine die Bewegung des Wassers verlangsamen, können sie wohl leichter an entfernte Eiskristalle im Wasser herankommen und an diese binden. Die Larven des Feuerkäfers nutzen also gleich zwei Mechanismen, um extremen Minusgraden zu trotzen.

Eine andere, ähnlich effektive Überlebensstrategie hat der Zitronenfalter entwickelt. Dieser unter anderem in ganz Europa heimische Falter aus der Familie der Weißlinge scheidet im Winter über seinen Urin Wasser aus und konzentriert so die Flüssigkeit in seinen Zellen. Dann reichert er sie mit Glycerin an. Dieser Zuckeralkohol senkt den Gefrierpunkt des Blutes, sodass sich erst bei extremen Temperaturen Eiskristalle in seinen Zellen bilden. Bis zu minus 20 Grad verkraftet der Falter. Als einzige Schmetterlingsart in Europa überwintert er ohne Schutz im Freien, zum Beispiel auf Zweigen. Dort verharrt er sogar, wenn an seinen Flügeln schon Eis klebt. Wer im Winter ein Blatt an einem Zweig hängen sieht, sollte einmal genau hinsehen: Womöglich ist es ein Zitronenfalter.

Bei anderen Schmetterlingen deutet zwar einiges darauf hin, dass auch sie im Winter möglichst viel Körperflüssigkeit ausscheiden, um dem Frost wenig Angriffsfläche zu bieten. Minusgrade verkraften sie aber wahrscheinlich nicht, zumindest nicht über Wochen und Monate. Arten wie das Tagpfauenauge und der Kleine Fuchs, aber auch Marienkäfer, Fliegen und Mücken überwintern deshalb in Baumspalten, hohlen Pflanzenstängeln, unter Falllaub oder in Kellern und Dachböden, starr und scheinbar leblos - bis der Frühling sie aufweckt.