Forscher testeten im Harz Nachbauten antiker Geschütze. Auch eine Mannschaft der Hamburger Helmut-Schmidt-Universität war dabei.

Kalefeld/Hamburg. David Ginster, Bundeswehroffizier in Uniform, steht im Wald und zielt. Vor ihm: ein Ungetüm von Waffe, gebaut aus Eschenholz und Stahl. "Ein römisches Feldgeschütz", sagt Ginster, der gerade sein Geschichtsstudium an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg abgeschlossen hat. "Eine sogenannte Ballista, wie sie im dritten Jahrhundert nach Christus verwendet worden ist", ergänzt sein ehemaliger Professor, der Althistoriker Burkhard Meißner. Am sogenannten Harzhorn im Landkreis Northeim wollen der Schüler und der Lehrer diese Waffe, die einer besonders großen Armbrust ähnelt, nun ausprobieren.

Forscher der Universitäten Trier und Osnabrück und des Gymnasiums Ising am Chiemsee sind mit ähnlichen Konstruktionen angereist, mit Repliken verschiedener Modelle aus mehreren Jahrhunderten. Die ältesten dürften so im ersten Jahrhundert vor Christus gebaut worden sein. "Eine derartige Leistungsschau antiker Wurfgeschütze hat es noch nie gegeben", meint der Osnabrücker Professor Günther Moosbauer.

Der Schauplatz dieses kollektiven Schießversuchs am Westrand des Harzes ist ein ganz besonderer Ort: An derselben Stelle, an der die Forscher nun ihre Geschütze aufbauen und justieren, auf dem östlichen Teil des zwischen Kalefeld und Bad Gandersheim gelegenen Vogelbergs, müssen sich im dritten Jahrhundert nach Christi Geburt Römer und Germanen eine blutige Schlacht geliefert haben, über die aber in Geschichtsbüchern nichts zu lesen ist. Erst einige Fundstücke, die Spaziergänger im Sommer 2008 bei der Northeimer Kreisarchäologie abgeliefert hatten, ließen Experten aufhorchen: Es waren Speer- und Katapultgeschossspitzen eindeutig römischen Ursprungs. Seit diesem Zufallsfund haben Archäologen am Harzhorn rund 1800 weitere Geschosse entdeckt. Im Landkreis ist inzwischen von "Roms vergessenem Feldzug" die Rede.

Dass die Römer in dem Gebiet waren und Feldgeschütze dabei hatten, gilt seitdem als sicher. Doch wie verlief die Schlacht? "Wir haben dokumentiert, aus welcher Richtung geschossen worden sein muss", sagt die Northeimer Kreisarchäologin Petra Lönne. "Wir haben dabei auch festgestellt, dass die Geschosse aus verschiedenen Richtungen gekommen sind." Die Germanen, so ihre These, seien wohl ins Kreuzfeuer geraten. Viele Fragen sind noch offen: Wo standen die Römer, als sie schossen? Wie stark waren sie durch ihre Geschütze in ihrer Mobilität eingeschränkt? Wie genau konnten sie zielen?

Auf der Suche nach Antworten haben Forscher versucht, die historischen Waffen der Römer so genau wie möglich zu rekonstruieren. Ein schwieriges Unterfangen, wenn doch nirgendwo detaillierte Baupläne existieren. Die haben die Historiker erst selbst herstellen müssen - und das nur anhand einer Fülle von Indizien. Burkhard Meißner von der Helmut-Schmidt-Universität sagt: "Wir haben in einigen Schriften unbekannter Autoren Hinweise gefunden." Auch einzelne Fundstücke, wie etwa eine 1,60 Meter lange Metallstrebe, die Ende der 1950er-Jahre beim Bau einer Staumauer im rumänischen Orsova entdeckt worden war, haben als Anhaltspunkte bei der Rekonstruktion der Geschütze gedient.

Jörg Mathies ist der Leiter der Zentralwerkstatt auf dem Campus der Bundeswehr-Uni. Seine Mitarbeiter haben das aus Hamburg stammende Geschütz gebaut. Die Konstruktion der etwa 200 Kilogramm schweren Waffe hat anderthalb Jahre in Anspruch genommen. "Weil wir immer wieder Änderungen vorgenommen und Neues ausprobiert haben", sagt er. Wo bei einem mit heute möglichen Techniken gebauten Katapult starke Gummibänder oder Stahlfedern für die zum Schießen notwendige Energie sorgen würden, haben sich die Wissenschaftler auf das beschränkt, was vor 1800 Jahren möglich erschienen sein muss: "Wir haben gezwirbeltes mongolisches Rosshaar verwendet", sagt Professor Meißner. Damit ist er aber noch nicht zufrieden: "Demnächst werden wir Därme ausprobieren. Ich vermute, dass die Römer Därme verwendet haben."

Mit vereinten Kräften spannen Leutnant David Ginster, Werkstattleiter Mathies, die wissenschaftliche Hilfskraft Christiane Krüger und der Oberfähnrich Jonny Obereder das Geschütz. Professor Meißner prüft die Spannung, nickt wohlwollend. Dann schallt ein scharfer Knall durch den Wald. Der eingelegte Pfeil schießt durch den Wald und bohrt sich 50 Meter weiter in eine Zielscheibe, die an einem Baum hängt. Das Bundeswehr-Team ist zufrieden.

Gleichwohl ist an diesem Tag am Harzhorn klar: Das ist nur ein symbolischer Schuss auf historisch bedeutsamem Boden gewesen. Ausführlich getestet haben die Forscher ihre Waffen schon vor einigen Wochen auf einem offiziellen Schießplatz des Militärs. Sie wissen nun, dass die ideale Kampfentfernung bei 150 Metern liegt, dass aber auch Reichweiten von weit mehr als 300 Metern erzielt werden können. "Von dieser Art von experimenteller Arbeit geht ein wissenschaftlicher Gewinn aus", sagt Meißner. Nachdem die ballistischen Eigenschaften der Waffen bekannt seien, ließen sich Schussbahnen nun auch theoretisch simulieren.

Auch wenn alle Wissenschaftler lange an ihren Geschützen gearbeitet haben - ein Fall fürs Museum sollen die Waffen nicht sein. Denn eine für Historiker bedeutsame Frage ist noch offen: Wann, wodurch und wie schnell gehen solche Geschütze eigentlich kaputt - sei es durch Überspannung, sei es dadurch, dass sie Dauerregen ausgesetzt sind.